Buchdoktor
Warwara, Maria, Janka und die kleine Kroschka leben tausende Kilometer von Moskau entfernt gemeinsam mit weiteren Mietern in einer Kommunalka (Gemeinschaftswohnung) und teilen sich Küche und Toilette. Vier Frauen aus vier Generationen mit vier verschiedenen Vatersnamen. Das erzwungene Zusammenleben in dieser Enge ist schon schwer vorstellbar; Konflikte um Gemeinschaftsküche und -Toilette setzten dem noch die Krone auf. Die Trostlosigkeit der Wohnsituation lässt sich mit adrettem Auftreten und formvollendet abgezirkelter Sprache der Figuren kaum überschminken. Janka ist noch keine 21 und träumt von einer Karriere als Musikerin, Maria arbeitet in einem Museum, Warwara, obwohl längst in Rente, ist noch immer im Einsatz auf einer Entbindungsstation. Maria organisiert den Kindergartenbesuch der kleinen Kroschka, die aus der Wohnung verschwunden sein muss, wenn Janka von der Nachtschicht kommt. Männer scheint es weder im Leben der vier Frauen, noch an Marias Arbeitsplatz im Museum zugeben; in der Wohnung sind sie in der Minderheit. Nachbar Koslapijs arbeitet wie seine Frau als Schlafwagenschaffner bei der Bahn; das Paar hatte noch nie gemeinsam auf einer Strecke Dienst und scheint stets in entgegengesetzte Himmelsrichtungen unterwegs zu sein. Matweij Alexandrowitsch erforscht beruflich die Zentrifugalkraft und muss sich mit seiner Verantwortung für einen tragischen Unfall in seinem Institut auseinandersetzen. Er scheint die interessanteste Person zu sein, sammelt irgendetwas in lyrisch beschrifteten Holzkästchen und gibt Anlass zum Rätseln, warum er sich weder für Frauen interessiert noch eine eigene Wohnung beantragt. Ungeplante Schwangerschaften, verschwundene Ex-Partner, junge Männer, die in den Krieg geschickt werden, und unerfüllbare Träume von Urlaub oder eigener Wohnung scheinen sich in jeder Generation zu wiederholen. In der Kommunalka zankt man sich am 11. März 1985 wie immer, plant Jankas Küchenkonzert und Matweij trägt an seiner Verantwortung für den Unfall – während in den Nachrichten der Tod Generalsekretär Tschernenkos verkündet wird. Die Herrschaft alter Männer wird von der Amtszeit Gorbatschows (1985-91) abgelöst werden; doch ob das im Alltag der Gemeinschaftswohnung etwas ändern kann? Katerina Poladjans für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierter Roman erinnert mich an die Schwemme Anfang der 90er Jahre übersetzter junger russischer Prosa und konnte mir inhaltlich nichts Neues bieten. Knapp und doch verschnörkelt skizziert Poladjan, wie ein Staat seine Bewohner durch Wohnungsknappheit und Versorgungsmängel bis zur Handlungsunfähigkeit lähmen kann. Die Trostlosigkeit im Alltag der Ex-Sowjetunion war höchstens durch kleine Fluchten zu ertragen, während das Land unaufhaltsam in den Zerfall steuerte. Der historisch bedeutende Wendepunkt erreicht Poladjans Figuren nur als Hintergrundrauschen. Im Aufbau originell, wirkt „Zukunftsmusik“ aufgrund der Aussichtslosigkeit für Warwaras Sippe und die Kommunalka-Bewohner deprimierend.