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thomas_gutsche

Posted on 22.6.2018

"Wir sind noch immer erschüttert von dem, was uns getroffen hat, aber wir werden niemals unsere Werte aufgeben. Unsere Antwort lautet mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit. Aber niemals Naivität." Die letzte Zeile wurde zum Mantra - Norwegens Antwort auf den Massenmord durch einen Rechtsextremen, der im Jahr 2011 nicht nur 77 Menschen das Leben kostete, sondern weitere für immer verletzte, physisch wie psychisch. Das Buch ist eine akribische Recherche des Lebens nicht nur des Mörders, sondern auch von Opfern, die es nachvollzieht bis zum Tag des Verbrechens. Es beginnt mit einem schockierenden Ausschnitt aus dem Geschehen am Tag selbst und springt dann zurück ins Leben des Mörders und mehrerer Opfer. Lange bleibe ich von den Schilderungen relativ unberührt. Warum ausgerechnet dieses Leben zu einer solchen irren Tat führen konnte, wird einerseits verständlich nachvollzogen und bleibt doch andererseits unbegreiflich. Es geht mir ähnlich wie beim Nachdenken über den Holocaust und ich denke, der Rest Unerklärlichkeit, der bleibt, bewahrt vielleicht auch davor, sich sicher zu fühlen und führt vor Augen, dass sich "so etwas" jederzeit und überall wiederholen kann. Wirklich ins Herz schneidet mir das Buch erst, wenn während und nach dem Tag des Verbrechens selbst die Überlebenden und Hinterbliebenen ins Spiel kommen, mit ihren Schmerzen, die nichts wirklich beruhigen kann und auch der Enttäuschung über den Umgang von Staat und Gesellschaft mit dem Gedenken an das Ungeheuerliche. Eine Gesellschaft, eine Partei und eine Jugend vergewissern sich selbst in der Mythologisierung ihres eigenen Umgangs mit dem Verbrechen, das die Gesellschaft zusammen schweißt, aber die Trauer der Hinterbliebenen und Überlebenden außen vor lässt und auch das vielfältige Versagen von Verantwortlichen, Behörden und Einzelpersonen, ohne das der größere Teil der Menschenleben vermutlich hätte gerettet werden können. Das Buch ist etwas besonderes, weil es nicht den Täter allein in den Mittelpunkt stellt, sondern auch seine Opfer und die Überlebenden und Hinterbliebenen. Dabei lässt das Leid, das er verursacht, ohne es auch nur im geringsten nachempfinden zu können, die irren Ideen des Täters ins Lächerliche sinken und ihn, statt ihn zu einem Monster aufzublasen, zu dem werden, was er ist: Ein Würmchen, getrieben und grotesk in die Irre geführt von dem unerfüllten Wunsch, geliebt zu werden. Einer von uns.

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