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Bris Buchstoff

Posted on 20.2.2022

Vergangenes und Gegenwärtiges Eines meiner Lieblingsgedichte stammt von Hilde Domin und drückt das aus, was ich von Zeit zu Zeit und gerade momentan so gerne tun würde: alles mal durchschütteln, auf Anfang stellen: Wer es könnte wer es könnte die Welt hochwerfen dass der Wind hindurchfährt Diese Verbindung stellte sich sofort in meinem Kopf ein, als ich ein schon optisch wunderbar gestaltetes Buch aus dem Hause Elif in Händen hielt. Geschickt hatte es mir tatsächlich Dinçer Güçyeter, der am 18. Mai 2022 selbst für seinen Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Dabei lag eine Karte auf der stand: Liebe Brigitte, auch diese Gedichte wirst Du lieben – und wo er Recht hat, da hat er Recht. „Dass die Erde einen Buckel werfe“ von Wolfgang Schiffer ist wieder einmal ein außergewöhnliches Buch mit besonderen Gedichten und Texten, die so offen und nahbar sind, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemand könnte so gar nichts damit anfangen. Wolfgang Schiffer stammt vom Niederrhein. Die erste Sprache, die er sich aneignete war das Platt seiner Eltern, das ihm in der Schule, wie damals üblich, so richtig handfest ausgetrieben wurde. Ein Dialekt, verbunden mit einer gewissen sozialen Komponente, Schicht sozusagen, der auch in diesem feinen Buch seinen Niederschlag findet. Die Sprache der Kindheit ist eine, die sich einprägt – jede*r der/die einen Dialekt spricht, weiß das nur zu gut. Manche Dinge, Dinge, die aus tiefstem Herzen kommen vor allem, kann man besser oder auch eben nur in diesem Dialekt ausdrücken, weil die allgemein verständliche Sprache, das Hochdeutsche, nicht die richtigen Wörter kennt. Verständnis, ja Verständigung – das ist ein großes Thema bei Schiffer. Nicht nur in diesem Buch. Wer seinen Namen kennt, weiß, dass er sein Leben lang mit und an Sprache gearbeitet hat. Wer Lyrik aus dem Elif Verlag kennt, weiß noch dazu, dass er wunderbare isländische Gedichte ins Deutsche übersetzt und damit einem breiterem Publikum zugänglich macht und so eine Verständigung zwischen zwei Welten schafft. In „Dass die Erde einen Buckel werfe“ nähert sich Schiffer über seine eigene Herkunft, die Herkunft vor allem seines Vaters, dem eigenen Erleben in der Gegenwart. Und ich glaube, es geht ihm da ein wenig wie mir, dass er manchmal einfach die Welt durchschütteln möchte, um so manches wieder an den rechten Ort zu setzen. Man ahnt während des Lesens der Gedichte, dass die Verständigung zwischen ihm und dem Vater nicht immer einfach war. Scham, aus einem Elternhaus zu kommen, das zwar – so wirkt es auf die Leserin – ein liebevolles, aber eben nicht reich begütertes war, derer er sich schämte, als er dieser vermeintlich engen Welt entkommen war, ist das erste der Gefühle, die Schiffer offenbart. Gleichzeitig spricht viel Wärme und Liebe aus dieser Darstellung: Wie nur hatte ich den Reichtum meiner Eltern nicht sehen können? die unverbrüchliche Liebe meiner Mutter zu mir / ihrem Kind / zu ihrem Mann den ehrlichen Stolz meines Vaters / der sich mit nichts und niemandem gemein machte / doch in die grauverwitterten Baracken ging und mit den Polacken sprach / die von allen gemieden waren / den Geflüchteten / damals wie heute vor Krieg geflohen / nur dass wir selbst es waren / die mit diesem Krieg die Welt ein weiteres Mal zerrissen hatten Über die Erinnerungen an seine Kindheit, seinen Vater, der das erste von seinem Sohn verfasste Gedicht eigenhändig in die Redaktion der Regionalzeitung zum Abdruck brachte, seine Mutter, die ihm wieder erscheint und bestätigt, dass sie glücklich war, kommt Schiffer bei sich selbst in der Gegenwart an. Er wäre nicht der Dichter, der er ist, würde er nicht an der Güte, an der Sinnhaftigkeit seiner Worte für andere zweifeln. und heute / gelingt es mir noch / an die Kraft der Wörter zu glauben/ an eine Sprache / die rettet / sehe ich noch Licht in einem Gedicht? und sind es überhaupt Gedichte / die ich hier schreibe / nur formlos wie wabernde Erinnerungen und dunkel wie Albträume bei Nacht? und falls ja /was wollen sie / wem dienen sie / reichen sie auch nur einen Buchstaben über sich selbst hinaus? Was für Fragen! Natürlich tun diese Gedichte, die einen so tiefen Einblick geben in das, was war und ist, viel mehr – sie schicken mich selbst in die Räume meiner Erinnerungen. Und gleichzeitig machen sie mir klar, dass man nie aufhört, an Dingen zu leiden, wenn man ein fühlendes Herz hat. Wolfgang Schiffer befürchtet, dass wir Menschen, die wir doch nur Gäste sind auf dieser Welt, verlernt haben, zu weinen, wenn es nötig wäre. Ich habe geweint, beim Lesen dieser wunderbaren Texte, die mich wahrlich so tief angesprochen haben, dass mir aus verschiedenen Gründen die Tränen kamen. Vor allem aber, aus Glück, diese Texte jederzeit griffbereit zu haben. Mit großem Dank an Wolfgang Schiffer für das Vertrauen, dass er uns LeserInnen entgegenbringt, indem er uns so nah an sich heranlässt und mit ebensolchem Dank an Dinçer Güçyeter für das Exemplar.

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