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Genial banal Lasst euch von der Überschrift nicht ablenken, liebe Leser:innen! Denn genial finde ich „Serge“ von Yasmina Reza (erschienen 2022 im Carl Hanser Verlag und aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel) weiß Gott nicht. Banal – ja, das trifft es (leider) eher. Yasmina Reza erzählt auf gut 200 Seiten die Geschichte einer nicht gerade typischen jüdischen Familie aus Paris. Die Geschwister Popper (Serge, Jean – aus dessen Ich-Perspektive der Roman geschrieben ist – und Nana) machen sich nichts aus der Religion ihrer Eltern, aber in erster Linie auch nichts aus sich selbst. Nach dem Tod der Mutter, die „[…]diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie geschaukelt [hat]“ (S. 13) erst recht nicht. Da mutet der Vorschlag von Serge´s Tochter Josephine, einen Ausflug nach Auschwitz zu machen, augenrollend merkwürdig an, wird aber trotz aller Unwägbarkeiten und Fragezeichen nach der Sinnhaftigkeit (auch im Nachhinein) „Ich antwortete, ich hätte mir nichts Bestimmtes von dieser Reise erwartet und sei noch unschlüssig, was sie gebracht habe." (S. 156) von den drei Geschwistern und Josephine angetreten. Und die groß angekündigte Besichtigung von Auschwitz und Birkenau nimmt dann (leider) nur einen geringen Teil der Handlung ein. Und ist genau DER Teil, der mich am meisten überzeugen konnte. Hier zeigt Yasmina Reza meiner Meinung nach, wozu sie schriftstellerisch in der Lage ist – nämlich kritisch den Massentourismus an Orten der Erinnerungskultur mit Selfies vor den Gaskammern („Seht, ich war in Auschwitz!“ = 100.000 Likes; überspitzt dargestellt!) anzuprangern und zu hinterfragen. Ja, wir brauchen Orte, an denen wir an die Grauen des Nazi-Regimes erinnert werden. Und ja, wir brauchen von Generation zu Generation Autor:innen, die sich damit auseinandersetzen, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Ja, ich weiß – im Angesicht der momentanen Situation klingt das zynisch. Was wir jedoch nicht brauchen, sind 100 Millionen Fotos auf Smartphones und in (a)sozialen Netzwerken von diesen Orten – mit Shorts, Sonnenbrille etc. und dem perfekten Filter perfekt in Szene gesetzt. Vor und nach dieser Episode strotzt der Roman jedoch vor Banalitäten und absurden Situationen, die mich mehr haben gähnen und Fragezeichen auf der Stirn erscheinen lassen als dass ich davon begeistert war. Die Charaktere sind durchweg unsympathisch und wenn an einer Stelle doch mal vernünftiges Personal auftritt, bleibt es bei einem (unpersönlichen) Kurzauftritt. Für einige Leser:innen mag Yasmina Reza einen feingeistigen Humor haben; ich konnte an genau EINER Stelle im Buch herzhaft lachen. Aber was für die Banalitäten gilt, kommt auch hier zur Anwendung: jede:r sieht es anders und darf es auch anders bewerten. Für den Ausflug der Geschwister Popper nach Auschwitz, den dadurch gewonnenen neuen Kenntnissen (die Judenrampe kannte ich zuvor nicht) und die zwei/ drei gelungenen Absätze vom Schlage eines „[...] der außerstande ist, sich an irgendeinem Ort zu erfreuen, ohne sogleich darauf zu hoffen, ihn wieder zu verlassen, unter dem Vorwand, er müsse sein Leben lang fliehen. Unser Vater sagte, er hat Hummeln im Hintern, immer ist es irgendwo anders besser! In seinen Augen war das kein gutes Omen. Er sah in dieser Ruhelosigkeit nur Eitelkeit, er sah darin nur Irrsinn oder Krankheit. Ich habe nie geglaubt, dass es sich um schlichte Ruhelosigkeit handelte. Die Vögel sind weder ruhelos noch verrückt. Sie suchen den besten Ort und finden ihn nicht. Alle Welt glaubt an einen besseren Ort.“ (S. 161/162) vergebe ich 2,5 (3)*. Schade; ich hatte definitiv mehr erwartet. ©kingofmusic