Buchdoktor
Als der alte Doc MacFarlane 1931 stirbt, hat er Jahrzehnte in der damaligen britischen Kolonie Malaya (südlich von Penang) verbracht und mit seiner europäischen Herkunft abgeschlossen. Damit seine Seele ruhen kann, muss MacFarlanes Körper wieder mit dessen abgetrenntem Finger vereint werden. Ren, der 11-jährige Hausboy erhält den verantwortungsvollen Auftrag, den Finger rechtzeitig zu finden, bevor nach den einheimischen Sitten die Frist dafür abgelaufen ist. Das Waisenkind, das beim Doktor verantwortungsvoll wie ein Erwachsener gearbeitet hat, muss für seinen Auftrag in die nächste Stadt zum Arzt William Acton reisen. Da ich mir nicht sicher war, ob der Sterbende inzwischen an die Mythen der Einheimischen glaubt oder durch seinen letzten Auftrag etwas anderes mit Ren vorhatte, war ich von Beginn an gespannt, warum Dinge in dieser multikulturellen Gesellschaft geschehen. An anderer Stelle gelangt die junge Icherzählerin Ji Lin durch die Vernunftheirat ihrer Mutter in den Haushalt ihres Stiefvaters und erhält dadurch einen exakt gleich alten Stiefbruder. Ji ist der Wunsch nach einer Ausbildung als Krankenschwester abgeschlagen worden, weil sich das nicht schickt für eine Frau und weil ihre Mutter sich sowieso den Wünschen ihres Mannes zu beugen hat. Gegen eine Schneiderlehre spricht allerdings nichts. Ji ist tief verletzt, dass Bruder Shim, der stets die schlechteren Schulnoten hatte, Medizin studieren wird und durch sein Stipendium in Singapur Abstand zu seinem gewalttätigen Vater erhält. Dass Ji heimlich Geld als Tanzlehrerin verdient, um ihre Mutter aus den Fängen eines Geldverleihers zu befreien, schickt sich zwar noch weniger, aber der Tanzpalast hat keine rote Laterne vor der Tür und die Mama-san behält ihre Mädels stets im Blick. Beim Tanzen schnappt sich Li etwas Sonderbares aus der Hosentasche ihres Tanzherrn – es ist ein Finger, eingelegt in einem Glasgefäß für anatomische Präparate. Ji und Ren sind beide mit konfuzianischer Ethik und chinesischer Zahlenmagie aufgewachsen. (Ren ist Chinese und wurde offenbar von MacFarlanes Köchin auch so erzogen.) Beide sind mit einem Begriff für eine konfuzianische Tugend getauft und beide fühlen sich unvollkommen, weil ihnen weitere Geschwister fehlen, um die magische Zahl Fünf zu vervollständigen. Im Laufe der aufregenden Suche nach dem gestohlenen Finger ergibt sich zwar, dass Ji und Shin, Ren und sein verstorbener Bruder jeweils Paare aus zwei Tugendbegriffen bilden (Zwei = Glück bringend), dass die Zahl Vier allerdings großes Unglück bedeuten würde, wenn sie ohne die fünfte Person bleiben sollten. Parallel zu Rens Finger-Suche, der von MacFarlane offenbar gezielt zu einem Förderer geschickt wurde, der die Begabung des Jungen erkennen kann, kommt es auf der dem Doktor benachbarten Kautschuk-Plantage zu mehreren Todesfällen. Ein Man-Eater, ein Tiger, der zu altersschwach zum Jagen ist, hat offenbar mehrere Kautschuk-Zapferinnen getötet. Der örtliche Sikh-Polizist ist in dem komplizierten Fall allerdings anderer Ansicht. Anders als Ren, dessen soziale Rolle niemand infrage stellt, hat Jin als unverheiratete Frau es allerdings schwerer, auf ihrer Seite des Abenteuers die Spur des Finger-Präparats zu verfolgen. Ihr und Ren ist gemeinsam, dass beide so anschaulich wie beunruhigend träumen und in einer gefährlichen Traumwelt Aufträge für das Diesseits erhalten. ... Anders als das romantische Buchcover evtl. vermittelt, habe ich „Nachttiger“ als Krimi gelesen, der tiefen Einblick in die britischen Kolonien als Entsorgungsplatz für Schwarze Schafe aus Oberschichtfamilien gibt, in das Denken mehrerer Kulturen im Vielvölkerstaat (heute:) Malaysia, u. a. in Zahlenmystik, konfuzianische Ethik und Aberglauben. Dabei habe ich den lokalen Aberglauben nicht als rückständig empfunden, sondern neben der für die Handlung entscheidenden Bildbedeutung chinesischer Schriftzeichen als traditionsreichen Schutz für Menschen in einfachsten Verhältnissen. Die Handlung zwang mich immer wieder, nachzusinnen, ob eine Person so denkt, wie ihre Erziehung nahelegen würde oder doch völlig anders. Den Anfang, als MacFarlanes Motive mir noch ein Rätsel waren, fand ich jedoch fesselnder als die hochkomplexe weitere Handlung. Mit drei Hauptfiguren (Icherzählerin Jin, Ren und Wiliam Acton), mehreren Handlungsorten sowie Träumen, Briefen und Rückblenden ein fordernder, komplexer Roman über die Kolonial-Epoche in Südost-Asien, den ich für bisher unterschätzt halte.