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kingofmusic

Posted on 10.2.2022

Lebenstrauma Flucht „Nur der Flüchtende kann den Schwindel der Freiheit aufspüren.“ (Reiner Klüting) Ehrlicherweise habe ich bei dem Titel „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ von Gert Loschütz (Erstveröffentlichung: 1990, damals unter dem Titel „Flucht“, jetzt Neuauflage im Verlag Schöffling & Co.) zunächst an eine Art literarisches „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gedacht. Nun – damit würde ich (nach der Lektüre) aber niemandem einen Gefallen tun, darum sei mir mein kleiner Gedanken-Faux Pas schnell verziehen und vergessen *g*. Gert Loschütz lässt den Ich-Erzähler Karsten die Geschichte (s)einer Flucht – zunächst von einen Tag auf den anderen aus der DDR – und dann von seiner (lebenslangen) Flucht vor den Jahrestagen ebenjener erzählen. „Sie brachten uns in ein Hotel. Ich habe dir erzählt, daß es das erste Hotel war, in dem ich übernachtet habe, und daß vielleicht alle anderen, die unzähligen, die ihm später gefolgt sind, nur dem einen Zweck gedient haben, dieses erste ungeschehen zu machen, wie auch die Reisen, ja, mein Beruf diesem einen Zweck gedient haben mochten, die erste Reise über die Grenze durch unendliche Wiederholung auszulöschen.“ (S. 66) Dabei geht der Autor nicht unbedingt stringent vor; zunächst sind es Schlaglichter von Dingen, die Karsten (von Beruf Reisereporter) an diesem Tag erlebt, gelesen etc. hat. Erst später wird daraus eine erkennbare Struktur von Rückblicken, Anekdoten (manche der Geschichte zuträglich und weiter ausgebaut, manche „sich im Sande verlaufend“) und Selbstreflektion – wenn auch (für Außenstehende) eher unkritisch, was ihm (zum Ende hin) auch von seiner (Ex-)Freundin zum Vorwurf gemacht wird „Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen […]. Neigte dazu, sich abzukapseln, fremd zu tun, der Nebendirmensch. Was ich sagte, drehte er rückwärts. Wußte: so verlier ich ihn, wie vor mir andere, an eine Chimäre, der er den Namen seiner Geburtsstadt gegeben hat, an eine Verbitterung, die grundlos ist, an den Maulwurf, den er Erinnerung nennt. (S. 192/ 193). Nun, grundlos ist für den Erzähler die Verbitterung bestimmt nicht, aber für Außenstehende, die nicht Teil einer Flucht waren bzw. sind, ist es leicht zu sagen „Irgendwann ist auch mal gut mit Trauma, man muss auch loslassen können.“ Das als kleinen Denkanstoß zwischendrin. Sprachlich agiert Gert Loschütz auf einem überragend hohen Niveau – ich habe schon lange nicht mehr so viele Stellen, die von Metaphern, Wortspielereien und –neuschöpfungen strotzen, markiert. Das Ganze ist von einer intensiven und tiefen Melancholie durchzogen, die dem ein oder der anderen evtl. auch zu viel des Guten sein kann. Wie gut, dass Geschmäcker und Empfindungen verschieden sind! Für mich steht fest, dass ich nach diesem überaus gelungenen Erstkontakt mit dem Autor alle weiteren Werke von Gert Loschütz lesen werde, um mich wieder von der Sprache be- und verzaubern zu lassen. Ganz klare 5* und eine absolute Leseempfehlung! ©kingofmusic

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