Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 9.2.2022

Der Anfang: «Sehet den Menschen. Er schlurft aus Clappison’s Courtyard heraus auf die Sykes Street und schnüffelt die vielschichtige Luft – Terpentin, Fischmehl, Senf, Grafit, der übliche durchdringende morgendliche Pissegestank geleerter Nachttöpfe. Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Reste ab, um auch wirklich alles für sein Geld bekommen zu haben.» 1859: Henry Drax kennt kein Gewissen, ihm macht es Spaß, aus Lust zu morden. Er heuert auf als Harpunierer auf der Volunteer an, einem Walfangschiff, das von England Kurs auf die arktischen Gewässer der Baffinbucht nimmt. Patrick Sumner geht als Schiffsarzt an Bord, weil der traumatisierte betäubungsmittelsüchtige Ex-Feldchirurg unehrenhaft aus der Armee während des Sepoy-Aufstands in Indien entlassen wurde und wahrscheinlich mit diesem Leumund keine gute Anstellung erhalten würde. Er will die Grausamkeiten des Krieges vergessen. Auf dem Walfänger verspricht er sich eine ruhige Zeit, gemütlich in seiner Koje liegend, Homer lesend, die Natur des Eismeers skizzierend festzuhalten. Jacob Baxter ist Eigner des Schiffs. Er hat gut am Walfang verdient. Doch die Überfischung der Wale bringt keine guten Erträge mehr ein, die Schiffe müssen sich nun zu weit hinaus ins Nordmeer wagen. Die Zeiten ändern sich, in Paraffin und Petroleum liegt die geschäftliche Zukunft. Kaptein Arthur Brownlee ist stinksauer, als er sieht, welche Matrosen hier angeheuert wurden, ein Haufen zwielichtiger Gestalten, voran der erste Maat Cavendish, ein brutaler Hohlkopf. Diese Fahrt ist als Ritt in die Hölle geplant: ein gut ausgeklügelter Versicherungsbetrug. Die Volunteer soll geschickt ganz langsam versenkt werden, so dass die Havarie im Packeis nicht als Betrug auffliegt; ein Schwesterschiff wird in der Nähe liegen, um Ladung und Mannschaft im Eismeer zu retten. Denn einen Verlust der Ware liegt dem gierigen Geschäftsmann fern. «Es ist wirklich ungeheuerlich›, sagt Brownlee. ‹Haben Sie jemals so etwas gehört? Ein kleines Mädchen ist eine Sache. Ein kleines Mädchen, das könnte ich noch halbwegs verstehen. Aber doch keinen verdammten Schiffsjungen, Herrgott, nein. Wir leben in bösen Zeiten, Campbell, das dürfen Sie mir glauben. Böse und widernatürlich.› Campbell nickt. ‹Ich nehme an, der liebe Gott verbringt nicht viel Zeit hier oben im Nordwasser›, sagt er mit einem Lächeln. ‹Höchstwahrscheinlich mag er die Kälte nicht.» Nebelbänke und Eisregen, Sumner liegt seekrank in der Koje, fragt sich nun, auf was er sich eingelassen hat. Robbenschlachten, auf der Insel Jan Mayen, um Proviant aufzunehmen, die Fahrt gestaltet sich ein wenig anders, als er sich das vorstellte – fast wäre er im Eismeer ertrunken. Als das Schiff Kurs auf Grönland nimmt und Sumner einen kranken Schiffsjungen untersucht, stellt er fest, dass dieser vergewaltigt wurde, doch der Junge will aus Angst nicht reden. Einen Tag später ist er tot. Schnell wird der schwule Zimmermann beschäftigt, in Ketten gelegt. Doch Sumner meint, die medizinischen Indizien würden gegen den Matrosen sprechen, er hat zeichnerisch alles sorgsam protokolliert. So beginnt er zu recherchieren, hat bald einen Verdacht: Henry Drax. Allerdings braucht er Beweise. Während sich der Konflikt zwischen den beiden Männern zuspitzt, wird ihm auch der eigentliche Sinn der verhängnisvollen Expedition zunehmend klar ... Aber der Plan läuft aus dem Ruder, der Crew steht eine Katastrophe bevor ... der Höhepunkt des Romans. «Nach dreißig Jahren Dienst auf dem Achterdeck glaubt Brownlee von sich, dass er den Charakter der Menschen recht gut einschätzen kann, aber dieser neue Bursche, Sumner, der irische Arzt, der gerade aus dem aufständischen Punjab kommt, ist wahrhaftig eine harte Nuss. Er ist klein, seine Miene ist verkniffen und unangenehm rätselhaft, er hinkt unglücklich und spricht eine barbarisch vernuschelte Hinterwäldlerversion der englischen Sprache; ... nicht gefällig zu sein, findet Brownlee seltsam ansprechend – vielleicht, weil es ihn an sich selbst in einer früheren und sorgloseren Phase seines Lebens erinnert.» Ein Leben an Bord unter hartgesottenen Männern, Überlebenskampf in der Arktis: Gewalt, Schmutz, Gestank, Grausamkeit und Tod - dieser Noir-Krimi ist nichts für zarte Nerven. Robben, Haie und Eisbären werden gejagt, bestialisch geschlachtet und ausgenommen, aber auch menschlicher Gestank kribbelt spürbar in der Nase bei der Lektüre. Doch letztlich sind diese Beschreibungen authentisch, nicht zum Zweck des herausgestellten Ekels erfunden. Dazwischen feine Naturbeschreibungen – die Kälte ist fühlbar. Die Arbeit der Männer ist gefährlich, sie erfordern Kraft und Geschick; die Verpflegung ist ekelhaft. Die Klaustrophobie an Deck wird erkennbar, Matrosen teilen sich den engen Raum, können sich nicht aus dem Weg gehen. Die Anspannung ist spürbar, Aggressivität und Streitereien lassen sich nicht vermeiden. Eine Mischung aus Kriminalroman und maritimem Abenteuerroman im Eis, aber auch ein zeitgeistlicher Stoff, ein Hauch von Herman Melvilles «Moby Dick», liegt unter der Story, und wer Dan Simmons «Terror» mochte, dem wird dieser Roman gefallen. Die Dialoge sind authentisch zu den Figuren gesetzt, der intellektuelle Sumner, grobschlächtige, abgestumpfte Matrosen. Die Figurenentwicklung ist sehr fein angelegt, hier gibt es kein schwarzweiß – Ian McGuire geht in die Seelen seiner vielschichtigen Protagonisten hinein. Kopfkino, atmosphärisch und inhaltlich unter dem Gefrierpunkt, ein spannender Histo-Noir. Ian McGuire, 1964 geboren, aufgewachsen in Hull, East Yorkshire, studierte an den Universitäten Manchester und Sussex und promovierte an der University of Virginia. Nordwasser, sein zweiter Roman, war ein New York Times-Bestseller und nominiert für den Man Booker Prize 2016. Ian McGuire lebt mit seiner Familie in Manchester.

zurück nach oben