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gwyn

Posted on 9.2.2022

Jan Stremmel interessiert sich für Herstellungsprozesse, fährt zur Wurzel eines Produkts, ob Stoffproduktion, Kaffee-, Gurken- oder Rosenanbau. Produkte, die wir in unseren Supermärkten billig kaufen können werden in anderen Kontinenten angebaut, geerntet, verarbeitet. Zu welchen Bedingungen leben die Menschen dort, wie sehen Lohn und Arbeitsbedingungen aus – was macht der Anbau mit der Umwelt vor Ort? Welche Folgen hat unser Konsum? Innerhalb von fünf Jahren war Jan Stremmel in mehr als vierzig Ländern unterwegs. Fernab touristischer Hotspots oder traumhafter Strände besuchte er Orte, an denen die Auswirkungen unserer globalisierten Welt deutlich wird. Die zehn Reportagen sind lebendig und eindrucksvoll, denn der Journalist zeigt nicht nur einen Außeneindruck, Fakten – er packt mit an, arbeitet selbst mit bei Ernten und Produktion, gibt seine Eindrücke aus dem «Maschinenraum». «Die Färberei ist der giftigste Schritt in der Herstellung von Textilien. Es braucht Hunderte Chemikalien ... Die meisten sind giftig, ätzend, krebserregend, hormonell wirksam oder alles auf einmal.» In einer Textilfärberei in Kalkutta wird Stoff gefärbt, die Arbeiter stehen hier im Lendenschurz, ziehen Stoffbahnen durch diverse Laugen. Aber wir haben doch ein Lieferkettengesetz! Das gilt aber erst für Unternehmen ab 3000 Mitarbeitern. Natürlich kontrollieren heute die Hersteller ihre Produktionsstätten – doch das sind die Vorzeigeobjekte, die die Auftragsmenge allein nicht stemmen können. Eben solche kleinen problematischen Subunternehmer liefern kostengünstig die fehlende Ware, die dann von der Hauptproduktionsstätte eingebucht wird – Vorzeigware. Stremmel hat sich bei der Arbeit den Fuß verätzt, weil er nicht wusste, dass man barfuß arbeiten muss, denn Laugen sind abwaschbar mit Wasser, wenn man sie gleich abspült. Ist der Turnschuh erst einmal vollgesogen, dann fällt er auseinander, Socken lösen sich auf, die Haut verätzt ... Das Grundwasser von Kalkutta ist durch Giftstoffe der Industrie schwer belastet. Die Regierung kümmert es nicht. «Bei Anna sah ich, was das Siegel [Fair Trade] für eine Arbeiterin bringen konnte. ... Arbeitssicherheit, demokratische Mitsprache der Mitarbeiter, Umweltstandards.» Waldrodungsgebiete in Paraguay – weit größere Felder von Regenwald als in Brasilien werden hier gerodet, weil es von den Bedingungen her wesentlich einfacher geht. Und niemand scheint es mitzubekommen! Weideland für Rinder und Agrarfläche für Soja. Tropenholz bringt Geld in die Kasse. Und mit den kleinen Hölzern wird ein weiterer Gewinn gemacht: Holzkohle aus Tropenholz – auf der wir unsere Würstchen grillen. Nein, es steht nicht auf der Verpackung, woher die Kohle stammt. Jan Stremmel bestückt einen Meiler. Er pflückt Rosen in Kenia, Kaffee in Kolumbien, besprüht Plastikfolien mit Kalkwasser, damit die kleinen Gurkensetzlinge in Andalusien nicht in der Sonne verbrennen. Fair Trade ist ein Thema, wie hier bei Kaffee und Rosen. Fair Trade ist eine gute Sache – nur manch einer kann sich eben keine Unterhosen nach ökologischem Standard hergestellt, leisten, auch keine Fair-Trade-Rosen, Kaffee, Kakao usw. – selbst wenn er wollte. Allerdings stellt sich eben auch die Frage, warum kauft man ein Shirt für zwei Euro, zieht es nur ein oder zweimal an, wirft es dann weg? Und warum überhaupt Schnittblumen, die schnell verwelken? Weshalb lässt man sich von Valentinstag und Muttertag beherrschen? Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Aber halt! Die Fair-Trade-Rosen, Kaffe, Kakao usw. geben Menschen halbwegs anständige Arbeitsplätze! Fallen sie weg, beraubt man sie ihrer Existenz, ihrer Zukunft. Abholzung des Regenwalds auf Borneo für Palmöl – für die Industrie und für unser Biobenzin, ein weiteres Thema. Zerstörung der Lebensräume für Orang-Utans, das Geschäft mit Affenbabys. Der Journalist besucht ein Waisenhaus für Elefantenbabys im Nairobi-Nationalpark. «Allein China hatte in den vergangenen drei Jahren mehr Sand und Kies für die Betonproduktion verbraucht, als die USA im gesamten zwanzigsten Jahrhundert, so schätzt man bei der UNEP.» Sandräuber auf den Kapverden – die herrlichen weißen Stände stehen heute nackt da, nur noch Steinskelette sind übriggeblieben. Der Tourismus brachte den Bauboom, europäische Bauweise, und dazu benötigt man Sand. Sand, ein weltweit begehrtes Gut, nicht nur für die Baubranche. Jan Stremmel begleitet Dita beim Sanddiebstahl, schaufelt und zerkleinert anschließend, siebt. Eine kleine Menge Sand nach stundenlanger Arbeit. Dita ist «eine von geschätzt hunderttausend in diesem Geschäftszweig, allein an der afrikanischen Westküste.» Sand, so der Autor, ist nach Wasser die zweitmeist verbrauchte Ressource auf der Welt. Der Aralsee, einst ein riesiges Gewässer, heute ausgetrocknet für die Baumwollindustrie, die aber an Wassermangel scheiterte. Zusammenbau von i-Phones in China. Jan Stremmel besucht Orte im «toten Winkel der Globalisierung», arbeitet an der Seite von Einheimischen und leistet dabei echte Drecksarbeit. Eindrücklich schildert er seine Erlebnisse. Er ist für die Süddeutsche Zeitung tätig, arbeitet heute auch für Wissenschaftssendungen. Wir reden derzeit viel vom schrecklichen Kolonialismus unserer Vorväter. Wirklich? Wir sind doch noch mittendrin! Früher wurden Sklaven gehalten. Früher? Menschenrechte? Wer genau hinschaut, der findet in Süditalien und Andalusien ausgebeutete Flüchtlinge, die in elendigen Unterkünften hausen, und fern ab vom Mindestlohn ohne Sozialversicherung bezahlt werden, teilweise sogar eingesperrt in Massenunterkünfte. Das alles für unser Billiggemüse aus dem Discounter. Menschen, die in anderen Kontinenten für unsere Verbrauchsgüter unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften. Diese Reportagen sind lebendig geschrieben und führen uns in Welten, die wir wahrscheinlich nie besuchen werden. Wichtige Reportagen, eindringlich geschrieben, mit Sachinformation begleitet, flott zu lesen. Fotos zu den Reportagen lockern das Ganze auf – obwohl, einigen der Bilder fehlt es an Schärfe; egal. Eine absolute Empfehlung. Kommt jetzt ein Aber? – Oder gerade nicht! Vieles war mir bekannt. Ich habe bereits lange Reportagen, wesentlich tiefgründigere, zu diesen und anderen Themen gelesen. Ich könnte kritisieren, das alles ist ein wenig ohne Tiefgang in der Sachinformation, kratzt zu sehr an der Oberfläche. Ja und nein. Wer mehr wissen möchte, kann sich Tiefgründigeres anlesen. Denn andererseits lockt gerade dieses dünne Buch, lebendig formuliert, sicher den ein oder anderen Leser an, der sich noch nie mit den Thematiken auseinandergesetzt hat. Das ist prima geschrieben, verständlich – eben auch wunderbar für Jugendliche lesbar. Ich würde das Buch als Klassenlektüre in Wirtschafts- und Sozialkunde empfehlen oder für Ethik und Religion; Projektarbeit. Und selbstverständlich für jeden anderen Leser auch – bitte lesen! Jan Stremmel, 1985 in Stuttgart geboren, aufgewachsen in München. Zivildienst, Magister-Studium, danach Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule. Er hat auf Vancouver Island und in Santiago de Compostela gelebt und er liebt Lateinamerika, Musik, Wellenreiten. Derzeit wohnt er in Berlin. TV: Seit 2021: Reporter und Autor für "Y-Kollektiv" von funk (ARD & ZDF); seit 2015: Reporter für ProSieben. Drehs in mehr als 40 Ländern für "Galileo", "Galileo Spezial" und den "Green Seven Report". 2015 und 2016: Co-Moderator von "Prankenstein" auf ProSieben; 2013 bis 2015: Moderator von "W.T.F. - Wissen, Testen, Forschen" auf EinsPlus. Auszeichnungen: Dr.-Georg-Schreiber-Medienpreis 2017; Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit 2017; Dietrich-Oppenberg-Medienpreis 2015; nominiert für Axel-Springer-Preis 2015; nominiert für Axel-Springer-Preis (Lokales) 2015.

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