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Berlin 2019. 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Und doch findet man an vielen Stellen noch eine Mauer in den Erinnerungen der Menschen an die Spaltung Deutschlands, die nicht nur baulicher, sondern auch gedanklicher Natur sind. Oft höre ich, dass Dinge typisch ost- oder westdeutsch sind. Ich selbst wohne erst seit Ende 2019 in Berlin, und erwische mich oft genug, dass ich noch nachfrage, ob ein Kiez jenseits der Grenze war bzw. nicht. Genau dieses Phänomen greift Maxim Leo in seinem Buch „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ auf. Ein Videothekenbesitzer namens Michael Hartung bekommt Besuch vom Journalisten Alexander Landmann. Der hat bei Recherchen Hartungs Stasiakte gefunden und wittert eine große Story im Zuge der Mauerfeierlichkeiten. Für einen geheimen Testlauf sollte Hartung einen Bolzen einer Weiche entfernen, um einen Zug von Ost nach West zu transportieren. Dieser Bolzen brach ab, und weitere Umstände führten dazu, dass statt dem Testzug ein regulär besetzter Zug mit 127 Personen nach Westdeutschland gelangt. Hartung wird zum Helden erkoren. Doch der will dieser Rolle so gar nicht gerecht werden. Nach und nach wird klar warum: Ihm und seiner Rolle als vermeintlicher Fluchthelfer wurde tatsächlich zu viel zugesprochen. Doch nun stecken alle Beteiligte zu tief in der Geschichte, um ein Aussteigen zu garantieren, bei dem alle ihr Gesicht wahren können. Auf sehr humorvolle Weise erzählt Maxim Leo von einem Helden der keiner sein will. Mit Witz und Charme erlebt der Leser eine Geschichte, die sich so wahr und tief verankert in unserem Alltag wieder zu finden ist. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Vergessen und dem Erinnern. Wie schafft man es, zwei ehemals getrennte Völker zusammen zu führen, die Denkmuster zwischen typisch Ost und West zu brechen, ohne die Hintergründe, wie es zur Trennung kam, zu vergessen? Wie viel Erinnerung braucht Geschichte und Ermahnen, ohne zu ermüden? Bei dieser Geschichte sind mir so viele Fragen durch den Kopf gegangen. Ich war gerade sechs Jahre alt, als die Mauer viel. Aufgewachsen im tiefsten Schwobaländle, war es mir unbegreiflich, warum man in den Osten Pakete schicken musste. Und heute lebe ich in der Stadt, in der die Trennung am deutlichsten zu spüren ist. Was war und ist typisch für diese beiden Staaten, die so viel trennte und vereinte gleichermaßen? Wie bekommt man solche Muster aus den Köpfen der Menschen heraus, die teilweise selbst davon anfangen? Damals, im Osten/Westen… Es gelingt mir nicht, eine vernünftige und abschließende Antwort auf diese Fragen zu finden. Es sind Strukturen, die so fest in den Köpfen verankert ist. Aber ab wann ist es Zeit für einen Wandel? Und wie kann dieser Wandel aussehen? Hartung ist für mich auch ein Zeichen des Wandels. Er hat durch seine schludrige Art dazu geführt, dass durch weitere Verkettungen Menschen fliehen konnten. Ohne ihn wäre der Zug vermutlich gar nicht erst in den Westen gefahren. Und doch weiß er um seine Rolle: hätte er den Bolzen nicht abgebrochen, wäre der Zug vielleicht nicht in den Westen gefahren, sein Leben und das der anderen wäre anders verlaufen. Die Rolle des Helden sieht er nicht für sich vor. Und so haben kleine Dinge eine große Wirkung im Alltag. Er versucht sich für seine Enkelkinder zu ändern, um für sie eine größere Rolle zu spielen. Und so kann im Alltag auch eine kleine Änderung große Wirkung haben. Vielleicht können wir weniger in den alten Verhaltensmustern verweilen, unser Ost-/Westdenken minimieren, ohne zu vergessen, warum es hierzu kam. Es ist ein schmaler Grat zwischen Vergessen und Erinnern. Wie gedenkt man derer, die ihr Leben und ihre Gesundheit für eine bessere Zukunft gelassen haben, und wie bricht man selbst verankerte Denkmuster? Das muss wohl jeder Leser für sich beantworten. Dieses Buch ist ein Denkanstoß, und eine Bereicherung in meinem Bücherregal! Ich habe sehr viele Stellen im Buch mir mitgenommen, anderen vorgelesen, um darüber nachzudenken. Maxim Leo hat diese Geschichte auf den Punkt gebracht, und ihr alles gegeben, was es für so ein Buch benötigt: Humor, jede Menge Denkanstöße, glaubhafte Charaktere (ich mag jeden von den Protagonisten), und hat auch gezeigt: Egal, wie tief man im Schlamassel steckt, jeder kann - auch wenn der Beitrag noch so klein ist - die Welt verändern. Denn man weiß nie, welcher Kiesel nachher einen großen Felsen in Bewegung setzen kann.