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anne_hahn

Posted on 30.1.2022

"Ich bin ein Mann, der keine Frau sein kann, der aber manchmal aussehen kann wie eine Frau, wenn ich es will. Das ist meine beste Eigenschaft, eine Maskerade, die ich an- und ablegen kann, wann es mir passt." Ein wandelbarer junger Mensch sucht in Europa sein Glück und zweifelt am Leben. Der vor einem halben Jahr bei Luchterhand erschienene Roman Grenzgänge ist der zweite des (1990 in Tirana/ Albanien geborenen und in Finnland lebenden) Autors Pajtim Statovci. Er ist ein Meisterwerk des Bösen. Perfekt dramatisiert wird in zeitversetzten Kapiteln die Geschichte eines Jungen erzählt, der unaufhörlich Grenzen überschreitet. Bujar ist wie sein Schöpfer in Tirana geboren – 14 Jahre älter als dieser und schwer vom Schicksal gebeutelt. Das Unglück Bujars beginnt mit dem Tod des Vaters. Der Kosovo-Albaner nährte den Sohn mit Legenden über den albanischen Nationalhelden Skanderbeg oder die Errichtung der Burg Rozafa, jetzt erliegt er kurz vor dem Sturz der kommunistischen Regierung einem Krebsleiden. Seine Beerdigung führt Bujar, seine Mutter und Schwester in den Kosovo. "Im Kosovo war die Erde trocken, und alles sah unfertig aus, die Gebäude, die Wohnhäuser und die Straßen, um nichts wurde sich gekümmert. Erbärmlich aussehende streunende Hunde zogen durch die Straßen, vor den Häusern häufte sich der Müll." Zurück in Tirana bricht das äußere und innere System des 14-Jährigen zusammen. Mutter und Schwester schließen sich in ihr Zimmer ein bzw. verschwinden und draußen sammeln sich Menschen auf den Plätzen: demonstrieren, hungern, verkaufen ihr Hab und Gut und schließlich ihre Körper. Die Albaner seien "die Müllkippe Europas, der Hinterhof Europas", berichtet ein älterer, rückblickender Bujar - und dass auf den Bildern der wiedervereinigten Deutschen und der Franzosen, Schweden und Engländer alle so wohlhabend wirkten, so sauber; "... dass die Scham, die ich zum ersten Mal im Kosovo gespürt hatte, so unermesslich groß wurde, dass sie sich über meine ganze Welt legte, über alles und jeden, die Menschen, die sich selbst für anständig hielten, sich aber gegenseitig bestahlen, die einander bei erstbester Gelegenheit das Messer in den Rücken stießen, sie legte sich über meine gelben Zähne und über die schäbige Kleidung, die ich trug." Hier haben wir die Seite 84 von 318 erreicht und verlassen mit Bujar und seinem innig geliebten Freund Agim bald die Familien, die Stadt und das Land. Es wird viel Grausames auf diesem Weg geschehen, der übers Meer nach Italien, weiter nach New York, Berlin und schließlich Helsinki führt. Bujar wird Geschlecht und Herkunft wechseln, wie es ihm gefällt. Er wird verletzen, rauben und töten, nachdem andere das Kind in ihm getötet haben. Liebe schien möglich. Schmerz ist wahrscheinlicher. Es sind schockierende Momente, die den Lesefluss stoppen. Bujar wurde mir umfassendes Sinnbild von Verstoßenheit und Andersartigkeit, sein Benutzen und benutztwerden wird in klarer Sprache erzählt – zum Luftabschnüren deutlich. Pajtim Statovci war zwei Jahre alt, als seine Familie aus dem Kosovo nach Finnland auswanderte, wo er aufwuchs und Komparatistik sowie Szenisches Schreiben studierte. Bereits als Student veröffentlichte er 2014 sein Romandebüt Kissani Jugoslavia (Meine Katze Jugoslawien), wofür er den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis und den Dublin Literary Award erhielt. Statovcis zweiter Roman Tiranan sydän (Das Herz von Tirana/finnische EA 2016, englische 2019, dt: Grenzgänge 2021) war 2019 Finalist des US-amerikanischen National Book Award. Ebenfalls 2019 erschien Statovcis dritter Roman Bolla, der mit einer Liebesgeschichte zwischen einem Kosovaren und einem serbischen Medizinstudenten im Priština der Neunzigerjahre einsetzt und den ausbrechenden Krieg erzählt. Statovcis Roman hat eine verblüffend starke wie schillernde Stimme, die ein prekäres Balkanbild mit den Abgründen des Wohlstandseuropa mischt - beunruhigend und kompromisslos. Ich möchte alles von Pajtim Statovci lesen! Als sein Antiheld Bujar am Ende seiner Reisen und des Buches zurück nach Tirana kommt, hat sich dort wenig verändert. Die Menschen reden immer noch darüber, weggehen zu wollen. "Beim Gehen blicken sie vorsichtig hinter sich, als hofften sie, dass die Vergangenheit, die sie von dort anstarrt, nicht ihre eigene wäre."

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