Profilbild von anne_hahn

anne_hahn

Posted on 30.1.2022

"Man hatte sich das Zeitalter nicht ausgesucht, in das man geriet. Durch das man irrte. In dem man verdarb." Mit diesen Zeilen beginnt das Kapitel EINS des neuen Romans von Jo Lendle. Vor einem guten Vierteljahr erschien Eine Art Familie im Penguin-Verlag. Es ist mein erstes Buch des Autors (und Verlegers des Hanser-Verlages) und es zog mich von der ersten Zeile an in den Bann. Im kurzen Vorspiel werden die Eltern der zwölfjährigen Alma lakonisch aus dem Leben befördert, das Mädchen herumgereicht und kaum erwachsen, zu ihrem gleichaltrigen Patenonkel Ludwig (genannt Lud) befördert – einem Großonkel Jo Lendles. Alma wird bleiben. Mir kam der gut 300 Seiten lange Roman zugleich viel kürzer und sehr viel länger vor. Bei Sätzen wie diesen musste ich innehalten: Wenn Alma als Kind zu Bett ging, waren Hinlegen und Schlafen eins. Im Älterwerden tat sich ein Graben auf, der mit jedem Abend breiter wurde. Alma begehrt Lud, Lud begehrt Gerhard, doch der ist gefallen. Sie leben zusammen, sie sind sich nahe. Der Erste Weltkrieg ist Kulisse ihrer Jugend, im Zweiten werden sie altern. Wir begleiten sie und das Fräulein Gerner, die ewig häkelnde Haushälterin der beiden, dabei. Der Fokus wandert von Alma, ihrem Staunen und ihrer Lust (aus flüchtigen Parkabenteuern werden flüchtige Schlafstubenaffären) zu Ludwig und seiner Gas- und Schlafforschung unter den Nazis. Seinem Zaudern und Hadern. "Alma legte den Kopf gegen seinen mageren Rücken und hörte seinem Atem zu. Über die Waschschüssel gebeugt murmelte er: "So überlebe ich/ in täglicher Erwartung meines Todes." Sie kannte sonst niemanden, bei dem man beim Aufsagen eines Gedichtes den Zeilenfall hörte. Es war eng im Bad, sie musste ihn zur Seite schieben, um an ihre Haarbürste zu kommen." Die Sprache Lendles wirkt manieriert – doch entsteht etwas beiläufig Reines daraus. Wenn die schlaflose Alma vor Luds Bett hockt und ihn andächtig anschaut, wenn Ludwig Hölderlin zitiert und mit dem Bruder um die Wette George, ja, das sind Klischees – und doch in einer Art erzählt, die ironisch distanziert ist. Leicht und verführerisch. Ich habe mich verführen lassen von diesem Roman, der zurückführt in ein Gestern, das lebendig wird und gegenwärtig. Sieben Jahre hat Jo Lendle an diesem Buch gearbeitet, erzählte er hier, um den Hintergrund zu recherchieren – und um sie erfinden, die er seinem (aus dessen Tagebüchern rekonstruierten) Großonkel an die Seite stellte – Alma. Das alte Fräulein, das junge und der verklemmte Forscher bilden nun auf ewig (im Roman in Frankfurt am Main, Leipzig und Göttingen): Eine Art Familie. Zauberhaft! "Anfang September lieferten Piepmeyer & Oppenhorst den Centralheizungskoks für den Winter... Vier junge Kerle trugen eine halbe Stunde lang eine Kiepe nach der anderen durch die Kellertür hinunter und stürzten die schwarzen Brocken krachend in die Kohlenecke. Alma starrte auf den langsam anwachsenden Berg aus möglicher Wärme, Ludwig schaute auf die Oberarme der Träger, das Fräulein Gerner blickte sorgenvoll auf den dreckigen Läufer im Hausflur."

zurück nach oben