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Der Anfang: «‹Herr Kundt, die Kriminalpolizei will mit Ihnen sprechen!› Die Stimme von Frau Kaiser, unserer Sekretärin, zitterte, als sie mir den Hörer hinhielt. Die Kripo? Mit mir?! Ich nahm das Gespräch an, ohne zu wissen, was da auf mich zukam. Vielleicht war es eine Verwechslung? ‹Hier ist Kriminalkommissar Wiese von der Mordkommission›, sagte eine strenge männliche Stimme, ‹spreche ich mit Thomas Kundt?› Ich nickte stumm in den Hörer. Keine Verwechslung, Thomas Kundt, das war ich. Finanzberater, 34 Jahre alt, 98 Kilo schwer bei 1,70 Meter Körpergröße. Und nach zwölf Jahren Beziehung gerade wieder Single (was das aktuelle Körpergewicht-Größe-Verhältnis erklärte).» Thomas Kundt ist Tatortreiniger. Wie wird ein Finanzberater Tatortreiniger? Reiner Zufall! Podcaster und Autor Tarkan Bagci erzählt Thomas Kundts Geschichte. Kundt sammelt Antiquitäten, Flohmarktware, für sich selbst, bzw. zum Weiterverkauf. Und so kommt es vor, dass er angerufen wird, um eine Wohnung aufzulösen – sein Nebenjob. In diesem Rahmen wurde er gefragt, ob er ein Problem damit hätte, eine Wohnung auszuräumen, in der jemand gestorben ist. Wo sollte das Problem sein? Ob er auch «Tatorte» reinigen könnte. Na ja, kann er sich vorstellen. So wurde seine Telefonnummer weitergegeben: Tatortreiniger. Tatort – viele denken sicher nun an Tatort – ein Kommissar ermittelt. Auch das kommt vor, doch eher selten. Ein spektakuläres Wort, eher müsste es Sterbeortreiniger heißen. Meist sind es Angehörige oder Vermieter, die darum bitten, die Wohnung eines Verstorbenen zu säubern, zu entrümpeln; Menschen, die bereits länger ihrer der Wohnung lagen, Suizide, Verunfallte – aber auch Opfer von Gewalt. Eines Tages klingelt bei Thomas Kundt das Telefon; eine Tatortreinigung liegt an, ein Suizid; Blut und Hirnmasse in einem Keller. Damit hatte er nicht gerechnet! Man rief ihn wirklich an. Was nun? Er sagt zu. Mutti anrufen, fragen, welche Putzmittel er mitnehmen soll. Die Mutter ist auch gleich bereit, mit anzupacken. «Wir fanden die richtige Tür auf Anhieb. Bereits nach wenigen Schritten stand ich mitten in einer Lache aus Blut und Urin und wer weiß was sonst noch. Dickflüssige Pampe, einen knappen Zentimeter hoch, verteilt über mehr als einen Quadratmeter. Und in der Pampe immer wieder Stückchen. Hirnmasse, dachte ich und schauderte. Oh Gott, und was machst du jetzt? Selbst meine Mutter hielt kurz inne. Aber dann stellte sie den Eimer ab und sagte: »Ich fang mal hier vorne an.« Sie kniete sich in eine Ecke und legte einfach los. Ich konnte sie natürlich nicht alleine putzen lassen. Also kniete ich mich in eine andere Ecke und fing ebenfalls an zu wischen.» Die Kundin, die Ehefrau des Toten ist zufrieden mit der Arbeit. Thomas Kundt überlegt: Wenn er diese Arbeit als neues Geschäftsmodell aufnehmen möchte, dann kann er nicht so blauäugig und unvorbereitet die Jobs annehmen. Darum bucht er einen Zweitageskurs als Tatortreiniger. Hier lernt er eine Menge über richtige Schutzanzüge, Masken, Putzmittel usw. Um es richtig anzugehen, schreibt er sich in einen Ausbildungsgang als Desinfektor*in ein und organisiert sich fachkundig. Bald hat er ein ordentliches Equipment zusammengestellt, leistet sich ein Sprühnebeldesinfektionsgerät. Zu seinem Job gehört es nicht nur die Spuren des Todes zu reinigen, sondern auch die Wohnungen zu entrümpeln. Da er seine Areit gut macht, erhält er immer mehr Aufträge, hängt den alten Job an den Nagel. Das Buch ist auch biografisch gestaltet, denn der Autor erzählt hier einen Bereich eines Lebenswegs. Wir begleiten ihn zwei Jahre, in denen sich viel verändert. Vom Finanzberater zum Tatortreiniger, ein sportlicher Job. Der Übergewichtige beschließt abzunehmen und Sport zu machen – seine Mutter ist krebskrank, die Oma, bei der er wohnt, fällt immer weiter in die Demenz. Arbeit, nebenbei die Ausbildung, Erfahrung sammeln; eine wundervolle Frau kennenlernen und Vater werden. Sein beruflicher Gang ist verknüpft mit seinem Privatleben, was dem Buch noch mehr Emotionalität verleiht – Atempausen für den Leser, herausschlüpfen aus den grausigen Orten. Bei all der Beschreibung der «Tatorte» und menschlicher Schicksale gehen Autor Tarkan Bagci und Kundt sehr respektvoll mit dem Klientel um. Jedes Kapitel widmet sich einem besonderen Bereich. Psychische Krankheiten, einsame Menschen, Sucht, Suizid, Gewaltopfer (die nicht immer verstorben sein müssen). Messis sind eine besondere Thematik. Das Ausräumen des Hauses eines Messis kann sich über Monate hinziehen. Eine Messiwohnung braucht immer ein paar Tage. Die Hinterbliebenen lernt Kundt oft kennen, die ihm meist den Auftrag erteilen, die Wohnung zu reinigen oder auch zu entrümpeln. Es ist nicht immer appetitlich, was wir hier zu lesen bekommen. Ein toter Mensch läuft aus mit all seinen Flüssigkeiten; je länger er liegt um so ... Manchmal müssen die Tatortreiniger durch tote Fliegen stapfen, die sich einen halben Meter hochtürmen. Menschliche Schicksale, Messiwohnungen – man sollte dieses Sachbuch nur lesen, wenn man damit klarkommt. Da dieses Buch empathisch geschrieben und nebenbei autobiografisch gehalten ist, gibt es auch humorvolle Stellen. Ein sehr lesenswertes Buch! Und wir dürfen nicht vergessen, vor dem Tatortreiniger musste die Polizei die Wohnung betreten, den Fall aufnehmen und die Bestatter die Verstorbenen mitnehmen. Respekt vor der Arbeit von allen Beteiligen. Thomas Kundt ist einer der bekanntesten Tatortreiniger Deutschlands. Wenn er aus seinem Berufsalltag erzählt, füllt er in ganz Deutschland Säle. Er hat an Tatorten vergessene Zehen gefunden, ergreifende Schicksale erlebt und kuriose Persönlichkeiten getroffen. TV-Sendungen, ein eigener Postcast als Tatortreiniger – er hat es auch zur Berühmtheit geschafft. Tarkan Bagci ist Autor, Podcaster und Journalist. Er hat für zahlreiche Fernsehformate geschrieben, darunter preisgekrönte Sendungen wie das Neo Magazin Royale und Kroymann. Sein Debütroman ›Die Erfindung des Dosenöffners‹ erschien 2021 und wurde ein Bestseller.