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gwyn

Posted on 28.1.2022

«Schon bald gesellte sich zu dem Koffer ein Satz Puppen ... ein grüner Mantel mit Brosche, eine gelbe Micky-Maus-Thermoskanne, eine Schirmmütze, eine Schwimmweste und ein weiteres Dutzend Gegenstände, die ich unter der Rubrik ‹Einnahmen› in dem Notizbuch verzeichnete, das ich jederzeit bei mir trug. Mit acht Jahren war mir klar, dass D. als Vater nicht viel hermachte, aber dafür war er ein großartiger Arbeitgeber.» Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich - selbst als Vertreter für Eisenwaren der Marke Kramp in Chile Anfang der 80er Jahre. Nägel, Schrauben, Muttern, Werkzeuge, Fuchsschwänze, Türspione. Der Papa, D., ist Handelsvertreter für Eisenwaren und weil Kinderaugen auch Eisenwarenhändlerherzen schmelzen lassen, nimmt der Vater kurzerhand seine siebenjährige Tochter M. mit auf Verkaufstour, ernennt sie zur Reisevertretergehilfin. M., die Erzählerin, genießt ihren Job, sahnt Lackschuhe und Zigaretten und einiges mehr ab, verschweigt ihr Doppelleben der Mutter, die ohnehin ganz andere Sorgen zu haben scheint. Der Vater gibt M. das Gefühl einer gleichberechtigten Partnerschaft, was Selbstvertrauen verleiht. Sie lernt schnell, arbeitet an Mimik und Gestik, ist sich der Macht bewusst, wie ihr zu Tränen gerührter Blick einen potenzielle Kunden zum Kauf erweichen kann. Man reist durchs Land und trifft auf Kollegen aller Branchen in immer den gleichen Cafés, Restaurants, Billighotels. Hier lernen sie auch E. kennen, Vertreter für Drogerieartikel, Filmvorführer und Fotograf, der als Hobby Geisterjäger ist, die Geister fotografieren will. Der Vater schraubt seiner Tochter eine schöne Illusion der Welt in den Kopf. Denn Kramp steht für Verlässlichkeit, die Produkte stehen für Stabilität und halten alles zusammen. «Als wir das Dorf gerade hinter uns gelassen hatten, versperrte uns ein Auto den Weg. Zwei Männer stiegen aus. ... verzichtete ich auf den Einsatz meiner Bühnentricks, trotz meiner dürftigen Erfahrung begriff ich, dass dies kein Theaterstück war. ... D. und E. stiegen aus und gingen, von den beiden Männern begleitet davon.» Irgendwann kommt der Leser an den Punkt, an dem er schluckt. Wir befinden uns in Chiles schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur von Diktatur Augusto Pinochet. Das Vater-Tochter-Roadmovie nimmt ein jähes Ende. E.'s Aktivitäten bleiben nämlich von der Regierung nicht unbemerkt. Die Reisenden sind angekommen in der Wirklichkeit. Menschen verschwinden spurlos, doch der Vater schaffte es, das Kind vor allem bis zu diesem Zeitpunkt zu bewahren. M. sieht so die heile Welt, die der Vater für sie inszeniert. Stück für Stück realisiert das Kind nun die reale Welt. Eine fragmentierte, distanzierte Erzählung; die Protagonisten werden mit Großbuchstaben benannt. Trotz allem liegt sehr viel Wärme in der Vater-Tochter-Beziehung, man spürt das ganze Spektrum der Emotionen. Mit E., dem Filmvorführer und Fotografen, der immer auf der Suche nach Geistern in unbewohnten Dörfern ist, sie sie fotografisch festhalten will, zeigt sich die Suche nach den Vermissten – von denen jeder weiß, dass sie tot sind – Geister, denn ihre Körper wurden nie wieder gesehen. Wir wissen, viel später werden viele von ihnen in Massengräbern gefunden werden. E. habe Verbindung zu ausländischen Zeitungen, so bekommt M. mit. «E. war eine Nebenfigur in unserem Leben›, sagt M., ‹und wir waren Nebenfiguren in einer größeren Geschichte.» Am Ende löst sich einiges auf, auch die Zurückgezogenheit, die Depression der Mutter. Und es gibt am Schluss einen voll ausgeschriebnen Namen. Auf einhundertzwanzig Seiten erzählt María José Ferrada berührend das Ende der Kindheit der kleinen M. Am Anfang erklärt D., dass ein Haus, welches zu achtzig Prozent aus Kramp-Produkten gebaut wurde, nur bei einem Erdbeben oder einem Tornado zusammenbrechen würde. Und der Tornado war über das Land gefegt. «Der ‹Glückskäfer› ist keine Spezies, sondern ein Insekt, das genau an der Stelle landet, an der das Leben einen anderen Verlauf genommen hat... Es ist ein Bruchteil einer Sekunde, der so klein ist, dass nur ein Insekt ihn durchqueren kann. Ein Insekt, das, wenn es erscheint, das Leben in zwei Hälften teilt.» María José Ferrada ist Kinderbuchautorin, hatte in ihrer chilenischen Heimat bereits über dreißig Kinderbücher herausgegeben, ehe sie mit Kramp den Weg in die Erwachsenenliteratur wagte. Die Journalistin und Autorin wurde 1977 in Chile geboren. Sie lebt in Santiago. Ihre Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt. «Kramp» wurde mehrfach ausgezeichnet.

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