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"Weil wir träumten", welches heute seinen Erscheinungstermin feiert, ist in vielerlei Hinsicht ein hervorstechender Roman, der in mir alle möglichen emotionalen Extreme hervorgerufen und mich so fertig zurückgelassen hat, dass ich auch nach Tagen noch keine Rezension schreiben konnte. Nun wage ich einen ersten Versuch, meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit der Geschichte in Worte zu fassen und will mit einer Liebeserklärung an das Cover beginnen. "Ich sah Kraken in ihren Höhlen, ich sah zwei Wale, eine Mutter und Kalb. Wir tauchten zu ihnen hinab und wir schwammen mit ihnen und ich wusste, wer sie waren, ich musste nicht fragen. Zwei andere junge Wale stießen zu uns, einer hatte Wunden auf seinem Rücken, tiefe Striemen. Doch sie hatten bereits begonnen zu heilen. "Die Mitte des Lebens", sage ich, "wir sind da. Dies ist die Mitte des Lebens." Auch wenn ich die beiden Gesichter (das sommersprossig-blasse von Emma und das dunkel strahlende von Fy) und den Leuchtturm vor dem ausgeblichenen blau-grauen Hintergrund für eine sehr gute Wahl für diese Geschichte halte, ist es der dunkelblaue Aufkleber, für den ich meine Begeisterung aussprechen will. Dieser verkündet nämlich, dass mit dem Kauf eines Exemplars von "Weil wir träumten" 1€ an den "Kinder für die Zukunft E.V." gespendet wird. Wenn das noch kein Grund genug ist, sich den Roman zuzulegen folgt nun eine ausführliche Liebeserklärung an diese Geschichte, die hoffentlich verdeutlicht, warum ich finde, dass jeder "Weil wir träumten" gelesen haben sollte! Erster Satz: "Es ist so schön hier. Mit diesem ersten Satz entführt uns Antonia Michaelis in ein wunderschönes, paradiesisch anmutendes Setting: eine madagassische Insel voller Leben mit unberührtem Urwald, weißem Strand, bunten Muscheln, gewaltigen Walen und französisch sprechenden Piraten. Die schiere Schönheit dieses Ortes, an dem die herzkranke, 16jährige Emma zusammen mit ihrer Urgroßmutter Elise versucht, ein wenig Frieden zu finden und sich lebendig zu fühlen, da er in krassem Gegensatz zu den sterilen Krankenhauszimmern steht, in denen sie sonst lebt, erscheint einem dabei wie ein Traum, aus dem man nicht aufwachen möchte. Antonia Michaelis schnörkeliger, bildhafter Schreibstil gleicht dem Stil eines Märchens, in dem alles irgendwie magisch und auf unwirkliche Weise schmerzlich schön erscheint. Manche Passagen lesen sich dabei wie Lyrik - "Mondlicht strömte herein wie Wasser. Der geschnitzte Delfin und die Meerjungfrau, die aus dem Mittelbalken ragten, regten sich, bereit, nach draußen zu entkommen - doch sie waren gefangen, steckten im Holz fest: unglückliche Geister." oder "Eine Tasse Milchkaffee, weiße Baumorchideem mit hellgrünen Blättern dazwischen: ein Stillleben. Elise hatte ein paar Muscheln dazugelegt. Und in der Ferne floss das Meer türkisblau in den Horizont." - und zergehen beim Lesen geradezu auf der Zunge. So war ich schon nach wenigen Kapiteln komplett verzaubert, was der zweite Grund ist, weshalb ich "Weil wir träumten" liebe. "Darin sind sie alle wie Kinder: Sie sehen immer nur das Schöne. Niemals hindurch." Leider steht der verträumte, wunderschöne Schreibstil der Autorin der harter Realität, die sie damit verschleiert, in einem krassen Gegensatz gegenüber. Denn der wunderschöne Schleier, der zu Beginn über Madagaskar liegt, wird nach und nach gelüftet, während die sechzehnjährige Madagassin Fy uns und Emma ihre Geschichte erzählt. Antonia Michaelis hat für "Weil wir träumten" zwei spannende Erzählperspektiven gewählt. Sie erzählt abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Emma, die ihre Erlebnisse auf Madagaskar in einem Tagebuch niederschreibt, und in einer Art Gedankenstrom von Fy, die in "Du"-Form mit ihrem Kind Onja spricht. Zwischen touristischen Abenteuern auf der Insel und Begegnungen mit dem jungen Weltreisenden Luc wird die Freundschaft zwischen Fy und Emma tiefer und wir erfahren bruchstückhaft, wie Fy - als minderjährige Mutter - auf dieser vermeintlichen Trauminsel gelandet ist. Fys Geschichte zu hören ist dabei wie Aufwachen: erst langsam und dann immer schneller werden wir mit der grausamen Realität konfrontiert und ist man dann erstmal wach, kann man nicht mehr zurück in den süßen Taumel des Schlafs und die Welt mit denselben Augen sehen. "Ich dachte überhaupt nicht mehr nach als andere Leute. Ich hatte nur das Glück gehabt, dass Fy mir Dinge erzählt hatte. Oder das Pech. Sonst wäre ich für immer blind geblieben. Sonst wäre der weiße Sand, in dem meine Zehen einsanken, für immer nur schön geblieben. Sonst hätte ich nicht geahnt, dass die Kinder, die mir mit Eimern voller Krabben entgegenkamen, nicht spielten, sondern arbeiteten. Dass sie die Krabben an Restaurants verkauften, statt zur Schule zu gehen. Sonst hätte ich beim Geruch von Vanille weiter an Pudding gedacht." Auch Emma hat eine Geschichte zu erzählen, die sie erst im letzten Drittel mit den LeserInnen teilt. Genau wie Fys ändert auch diese Erzählung das Bild, das man von der Protagonistin hatte. Während man zu Beginn noch dachte, Emma würde verantwortungslos handeln, ihr Wohlergehen aufs Spiel setzen und sich gedankenlos treiben lassen, verstehen wir auch sie im Verlauf der Handlung besser und können tief im eigenen Herzen nachfühlen, wie sie die Suche nach purem Leben, Intensität, Liebe, Sinn und Bedeutung innerlich zerreißt. "Weil wir träumten" hat mich bewegt, berührt, ganz tief erreicht und mich genau wie Emma an meine Ideale erinnert, an den tiefen Wunsch, die Welt zu verändern, hinauszuziehen und etwas zu bewirken, Menschen zu treffen, hinter Fassaden zu blicken und Schicksale zu verändern. Wünsche, die ich als Kind hatte, beim Erwachsenwerden aber vergessen habe und von denen ich hoffe, dass ich sie nicht mehr verliere. Und auch dafür liebe ich diesen Roman! "Schlaf gut, Emma", flüsterte Elise. "Ich werde hier sitzen bleiben. Ich passe auf dich auf." Aber wer passt auf die anderen auf?, dachte ich. Auf die, die im Winter ihr Zimmer mit den Ratten teilen?" Doch selbst nachdem die Autorin den schönen Schleier gelüftet hat und wir sehen, was sich darunter verbirgt, bleibt der Traum ganz dem Titel entsprechend ein wichtiges Motiv der Handlung und das unwirkliche Gefühl, das durch die leicht entrückte Atmosphäre entsteht, begleitet die Geschichte bis zum Ende. Aufrechterhalten wird diese dadurch, dass Träume, in denen Figuren zu Wale werden, mit Toten sprechen oder Visionen einer besseren Zukunft herbeiträumen, zwischen die bittere Realität gemischt werden. Bedrohungen werden durch Geister, Flüche oder Figuren wie der Herzenssammler der Realität entrückt und viele heftige Szenen sprachlich eingetrübt, sodass das Lesen erträglicher gemacht wird, ohne sie zu verharmlosen. Das sollte theoretisch nicht ganz zusammenpassen, trägt aber auf sehr stimmige Art und Weise zum Verständnis der Figuren und deren innersten Wünschen bei und sorgt dafür, dass man es überhaupt aushält, diese Geschichte zu lesen. "Langsam nahm ich Umrisse in der Dunkelheit wahr - Umrisse von Blättern aller Formen vor dem Himmel, der hoch oben hing und ein wenig Mondlicht auf mich träufelte, Mondlicht wie Medizin. Da war sie wieder, die Schönheit - jedes Blatt ein Ornament. Ehe ich gehe, eines Tages, möchte ich Blätter sehen." Denn auch wenn "Weil wir träumten" ohne Triggerwarnung daherkommt und offiziell für LeserInnen ab 14 Jahren empfohlen wird, kann ich nur nochmal betonen, dass wir es hier mit einem Drama zu tun haben, das tiefste Abgründe zeigt. Hier geht es um Zwangsprostitution, Gewalt, Armut, Hunger, Krankheit, Tod, Mord, Gefängnis, Missbrauch und Kinderarbeit. Besonders unter die Haut geht das Geschilderte, dadurch, dass die Autorin zwei Jahre lang vor Ort war und mit ihrer Familie eine Schule und ein Kinderhaus aufgebaut hat. Dadurch, dass sie in dieser Zeit sowohl aus eigener Erfahrung als auch durch Erzählungen von echten Schicksalen Einblicke in das Leben der Madagassen erhielt, kann sie Emmas und Fys Perspektiven so authentisch wiedergeben, dass man meinen könnte, es sei eine echte Geschichte. Und das macht sie sich zunutze: Antonia Michaelis zeigt wie düster ein schönes Land, wie zerstörerisch verzweifelte Menschen und wie blind eine ganze Gesellschaft sein können. Dabei macht sie keine Kompromisse und treibt uns LeserInnen über Grenzen hinaus. Sie beschreibt Dinge, die man nicht lesen will, aber man folgt ihr dennoch auf diese Reise, man kann gar nicht anders. Denn trotz all der emotionalen Arbeit, wärmt es das Herz, wie die Geschichte Schönheit im Hässlichen und Hässlichkeit im Schönen findet. "Emma hat es selbst gemerkt: Zuerst sieht man nur die schönen Dinge an der Oberfläche, die Dinge, die Besucher sehen sollen. Dann, irgendwann, sieht man die Hässlichkeit darunter, und erst danach sieht man das wahrhaft Schöne unter dem Hässlichen: die Sonne auf einem Abwasserkanal. Eine Blume im Müll. Das Lächeln der Menschen in ihren abgerissenen Kleidern. Die Hoffnung in ihren Augen. Das Lachen, das niemals ganz verschwindet. Ja, mein Land ist schön. Aber nicht wegen der Palmen, der Muscheln, der Lemuren." So kommt es, dass auch die Liebe einen großen Teil des Romans in Beschlag nimmt. Anhand der Hauptfiguren und den ebenso liebevoll und detailliert ausgearbeiteten Nebenfiguren werden alle Facetten der Liebe beschrieben und zum Leben erweckt. Die zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Zwischen Bruder und Schwester. Zwischen Eltern und Kind. Enkelin und Uroma. Zwischen Freundinnen. Zwischen Schicksalsgefährten. Zwischen einer Madagassin und ihrer Heimat. Zwischen einer Leserin und ihren Protagonisten.... Wegen genau dieser Liebe und Nähe zu den Figuren ist "Weil wir träumten" eines der traurigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Es hat einen solchen Schmerz in mir hervorgerufen, dass ich es kaum ausgehalten habe, es zu Ende zu lesen, dass ich an mehreren Stellen "bitte nicht, bitte nicht" geflüstert habe und an noch viel mehr Stellen in Tränen ausgebrochen bin. Doch obwohl es schmerzlich grausam war, war es auch das schönste Buch, das ich seit Langem gelesen habe. Ich habe selten eine so intensive Geschichte gelesen, die die Schönheit des Lebens so feiert, wie "Weil wir träumten". Und ich habe auch selten ein Buch gelesen, bei dem ich schon in der Hälfte wusste, dass es mir für immer im Gedächtnis bleiben wird. In kurz: ICH LIEBE ES! LEST DIESES BUCH! "Ich war hier, weil ich gedacht hatte, ich könnte alle retten, ganz leicht, nur weil ich aus Europa kam, aber im Grund dachte ich, im Grund, hatten sie mich gerettet. Diese Menschen. Sie hatten etwas bewirkt, was kein Medikament bewirken kann. Etwas in mir ausgelöst. Ein Gefühl von Glück." Fazit: Diese Mischung zwischen Traum und Wachen, zwischen Realität und Übersinnlichem, Schönheit und Grausamkeit, Traurigkeit und Freude hat mich berührt, bewegt und beschämt wie lange kein Buch mehr. In "Weil wir träumten" erzählt Antonia Michaels auf absolut atemberaubende und authentische Art und Weise von Freundschaft, Liebe und den Schattenseiten der Mitte des Lebens: Madagaskar.