seeker7
Es ist kein völlig unbekanntes Zukunfts-Szenario, HERZOG gestaltet es auf eine spezielle Weise aus: Die Erde ist verwüstet. In unterirdischen Tiefen haben sich einige menschliche Refugien gebildet, in denen jeweils einige Zehntausend Menschen leben können. „Leben“ bedeutet hier: Es gibt zwar (noch) biologische Körper, die mit beträchtlichem technischen und medizinischen Aufwand betreut werden – das eigentliche soziale, berufliche und private Leben findet aber in virtuellen Räumen statt, in die man sich je nach Bedarf einloggen kann. Der technologische Fortschritt macht es möglich, absolut „real“ wirkende (natürlich dreidimensionale) Welten zu programmieren, in denen man dann all die „Menschen“ trifft, die auch gerade dort eingewählt sind. Dabei funktionieren alle inneren und äußeren Sinneskanäle, sodass die Simulation nahezu perfekt erscheint. Natürlich läuft dieser ganze Prozess über eine Gehirn-Schnittstelle, die – Überraschung! – auch eine totale Kontrolle durch eine Herrscher-Kaste ermöglicht – nur zum Besten der geschätzten Bürger, versteht sich. Tatsächlich gefällt diese perfekte und (scheinbar) sichere Welt fast allen – nur nicht einer kleinen Gruppe von Aufwieglern, die sich irgendwie doch nach einem authentischen, selbstbestimmten Dasein sehnen. Da zeichnet sich möglicherweise ein Kampf „Gut“ gegen „Böse“ ab… Die Story wird nach allen Regeln der Kunst personalisiert: Der Riss zwischen den Konstrukteuren bzw. Kontrolleuren der Macht und den Aufbegehrenden geht mitten durch die Familien; es gibt auf allen Ebenen jede Menge Herz und Schmerz und natürlich nervenkitzelnde Spannung, die sich nicht nur im Kampf um die besseren Algorithmen entlädt. Die Protagonisten steht genau zwischen den Welten – sind doch ihre Eltern Chef-Designer der Hologramm-Welten, ihr Liebster aber will das alles hinter sich lassen. Wie das Leben – offenbar auch im Jahre 2381 – eben so spielt: Es gibt jede Menge Komplikationen und Hindernisse. So ein Science-Fiction-Roman speist sich ja in der Regel aus (mindestens) drei Quellen. Da ist einmal die Ausgestaltung des technischen Zukunftsszenarios: neue Apparate; physikalische Entgrenzungen; Veränderung in Kommunikation, Fortbewegung, Ernährung, Fortpflanzung, usw. Der zweite Baustein ist eine bestimmte Ausgangskonstellation: Wer oder was kämpft mit welchen Motiven gegen wen oder was mit welchem Ziel? Und die dritte Ebene ist dann die Übersetzung des Ganzen in konkrete handelnden Figuren, mit ihren spezifischen Emotionen, Ambivalenzen, Stärken und Schwächen. Algorytmica bewältigt zwei dieser drei Aspekte ganz ordentlich: Die Kunstwelten und ihre Weiterentwicklung werden mit viel Kreativität und Liebe zum Detail beschrieben; darauf lässt man sich als Leser/in gerne ein. Die geschilderte gesellschaftliche Konstellation, in der es letztlich um die Verhinderung einer besonderen Art der Weiterentwicklung des Überlebenssystem geht, kann man auch gut akzeptieren. Also eine gute Basis! Leider entsteht dann ein Bruch: Die handelnden Figuren scheinen aus einer beliebigen Teenager-Serie entliehen zu sein! Für einen schon etwas reiferen Leser erscheint es nur schwer erträglich zu sein, sich durch all den vorhersehbaren Beziehungs-Kitsch zu arbeiten. Schade um die kunst- und fantasievoll geschaffenen Rahmenbedingungen… Man kann es natürlich auch netter ausdrücken: Dieser Zukunfts-Roman hat eine bestimmte, eher junge und emotionsbezogene Zielgruppe im Auge. Diese wird wahrscheinlich auch ganz gut bedient. Die Ausgangslage dieses Romans hätte – ein ernsteres Anliegen vorausgesetzt – durchaus das Zeug gehabt, den Konflikt zwischen den beiden Polen „Sicherheit in einer perfekt kontrollierten digitalen Kunstwelt“ und „Authentizität im risikobehafteten echten, biologischen Leben“ als interessante Gradwanderung durchzuspielen.. Leider hat sich die Autorin dem holzschnittartigen Standardmuster verschrieben: Das Böse muss ganz und ausschließlich böse sein (bis zu altmodischen Gewaltorgien), das Gute ist eben edel, hilfreich und gut (und natürlich der Liebe verpflichtet)…