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Mir fällt es außerordentlich schwer, für dieses Buch Bewertungs-Sternchen zu vergeben; der Grund dafür wird sicher im weiteren Text deutlich. Ein Autoren-Duo und eine Illustratorin haben ein Buch für ältere Kinder/Jugendliche (ab ca. 12 Jahren – meine Schätzung) geschaffen, das diese Altersgruppe ausführlich und altersgerecht über einen gesellschaftlichen Bereich informiert, über den vermutlich die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung keine fundierte Auskunft geben könnte. Insofern könnte man sagen, dass eine echte Informations-Lücke beseitigt wird. Doch es geht den Autor*innen eindeutig um mehr als eine sachliche Aufklärung: Dieses Buch ist parteilich, hat eine klare Zielsetzung und verfolgt eine Mission. Es geht um drei Ziele: Einmal sollen die Begrifflichkeiten, die sich rings um die Abkürzungs-Formel (LGBTIQ) formiert haben, in klarer und schnörkelloser Sprache erklärt werden. Schon in diese Erklärungen mischt sich die zweite Botschaft: Nichts rechtfertigt an irgendeiner Stelle irgendeine Form von Ablehnung oder Diskriminierung gegenüber den Menschen, die sich im Reigen dieser „queeren“ Identitäten und sexuellen Orientierungen einreihen. Die dritte Kernaussage richtet sich direkt an die Kinder/jugendlichen und ermutigt sie, eigenen Impulsen, Bedürfnissen oder Empfindungen angstfrei nachzugehen und sich bei Bedarf Unterstützung zu holen. Das Ganze ist sehr ansprechend und einladend aufgemacht: Es gibt viel Farbe im Buch, jede Menge Grafiken und zu den wichtigsten Themen wernschden kurze „Interviews“ mit (fiktiven) jungen Menschen aus der jeweiligen Gruppe geführt. Alles wirkt offen, transparent, bunt, vielfältig und tolerant. Scheint eine tolle Sache zu sein, dieses LGBTIQ… Wäre ich ein Teil dieser Community, könnte diese Rezension an dieser Stelle enden und ich müsste fraglos eine 5-Sterne-Bewertung zufügen. Aber ich bin ein binärer, heterosexueller cis-Me und außerdem auch fachlich nicht ganz unbelastet; daher schaue mir mit einer gewissen analytischen Distanz an, welche Botschaften in dieses Buch „eingearbeitet“ worden sind, die nicht einen selbstverständlichen gesellschaftlichen bzw. wissenschaftlichen Konsens widerspiegeln. Ein paar Beispiele: – Die Autoren sprechen gleich auf der ersten Seite die jungen Leser/innen ganz direkt an. Sie wollen offenbar klären, wie weit es schon eine persönliche Beteiligung im Sinne eines „Anderssein-Wollens“ gibt. Es folgt die Einladung, sich doch mal die breite Palette der Möglichkeiten anzuschauen… – Nach einer Definition und einem kurzen geschichtlichen Abriss geht es dann gleich ans Eingemachte: Das (männliche oder weibliche) Geschlecht des neugeborenen Babys wird als eine „Zuweisung“ durch das medizinische Personal dargestellt; diese Feststellung (Junge oder Mädchen) wird ganz generell als Akt der Diskriminierung, Beleidigung und Benachteiligung gedeutet – weil es ja Einzelfälle gäbe, in denen die biologischen Voraussetzungen unklar oder widersprüchlich seien. Warum die Geschlechtsbestimmung auch in allen anderen Fällen irgendetwas Böses sein sollte, erschließt sich wohl nur dann, wenn man ganz grundsätzlich an der Bedeutung biologischer Gegebenheiten zweifelt. – Mit Sprache beschreibt man nicht nur die Welt, man kann sie auch verändern (oder es zumindest auch versuchen). Damit möglichst alle denkbaren Varianten von Geschlechtsidentitäten völlig gleichberechtigt nebeneinander stehen können, definieren die Autoren die Kategorie „cis“ für die (große) Gruppe von Menschen, die mit ihrem „zugewiesenen“ Geschlecht zufrieden sind. Und schon ist diese Variante nur eine von vielen… „Trans“ ist dann das Gegenteil von „cis“ (also die Unzufriedenheit mit dem zugewiesenen Geschlecht). Schnell wird noch behauptet, dass in der Deutschen Sprache die Hälfte der Bevölkerung beim Sprechen einfach „vergessen“ oder „weggelassen“ werde. Man kann ja gegen das generische Maskulinum sein – aber so zu tun, als hätte es diese sprachliche Übereinkunft nie gegeben, ist schon ein wenig seltsam. – Die nächste Lektion betrifft die „Binarität“ der Geschlechter: Wenn Menschen beschließen, dass sie nicht eindeutig Mann oder Frau sein wollen, dann schaffen sie damit eine neue, dritte Geschlechtlichkeit: Sie sind „nicht-binär“. Damit ist für alle Zeiten klar, dass es eben nicht nur das weibliche und männlich Geschlecht gibt! Damit sich das die jungen Leute noch besser vorstellen können, folgt eine Veranschaulichung: Wenn man in der Eisdiele nur Schoko oder Vanille angeboten bekommt, man beides aber nicht mag, sollte man einfach auf Zitroneneis bestehen! So einfach ist es also, sich seine Geschlechts-Identität auszusuchen… – Im (zunächst gelungenen) Kapitel über sexuelle Orientierungen landen wir irgendwann bei den „Polysexuellen“ und bei den „Pansexuellen“ – einer Unterscheidung, die man möglicherweise außerhalb der queeren Community niemals in seinem Leben benötigen wird. – Wenn es später um geschlechtstypische Kleidungsgewohnheiten bzw. -normen geht, stoßen die Leser/innen auf eine Welt der maximalen Flexibilität: Warum nicht als heterosexueller Junge mit einem rosa Blümchenkleid in die Öffentlichkeit gehen – Probleme damit haben ja nur die anderen (mit ihren starren Vorstellungen). Das soll reichen. Ich wollte begründen, warum ich dieses Buch nicht als (reine) Informationsquelle ansehe, sondern als eine weltanschaulich geprägte Darstellung einer bestimmten Interessensgruppe. Ich finde es schade und auch ein wenig unlauter, dass in diesem Buch keine Unterscheidung bzw. Trennung erfolgt zwischen einer (sinnvollen) Aufklärung, einer (ebenfalls zu begrüßenden) Erziehung zur Toleranz und der Vermittlung eines bestimmten Weltbildes (nämlich das der queeren Community und ihrer Definitionen der Geschlechtlichkeiten). Zurück zu den Sternen: Für ein toll gestaltetes Buch mit immer wieder auch gut gelungenen Texten (z.B. über Homosexualität oder das „Coming Out“) hätten 4-5 Sterne gut gepasst; für die eingebaute „Propaganda“ würde ich jeden Stern verweigern. Da ganz ohne Sterne diese Rezension nicht akzeptiert wird, gebe ich 3 Sterne (meine aber 2,5).