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gwyn

Posted on 11.1.2022

Erste Seite: «Die Nacht hat Frost gebracht, er hat sich auf die kahlen Bäume gelegt und funkelt wie Glassplitter im frühen Sonnenlicht. Um 4.30 Uhr ist Corinna Maier aufgestanden, hat Kaffee gekocht und auf ihrem Balkon eine Zigarette geraucht. Danach hat sie in der Dusche eine Stunde lang heißes Wasser auf sich regnen lassen und sich gewünscht, es wäre Abend ohne Tag davor. Sie kann nicht essen, schläft in Versatzstücken und denkt ständig an die Verhandlung. Nach der Dusche war ihr übel, Kaffee und Magensäure schossen ihr die Kehle empor. Sie musste sich übergeben. Danach zog sie sich an, packte ihre Handtasche und ist in die Straßenbahn. Sechs Stationen. Die Fahrt dauerte ewig.» Recht zu sprechen, bedeutet nicht immer moralisch gerecht zu sein, insbesondere aus der Sicht der Opfer. Grundlagen für das erste Semester im Jurastudium. Ein Thema, das in der Literatur immer wieder großartig verarbeitet wurde, mit besonderer Intensität von Ferdinand von Schirach. Ich war gespannt auf den Roman eines Rechtsanwalts und bin leider bereits auf der ersten Seite enttäuscht worden. Wenn jemand eine Geschichte zu erzählen hat, dann impliziert es noch lange nicht, dass er schreiben kann. Die Stilistik stellt den Leser auf eine harte Probe mit einer starren Sprache ohne Rhythmus, Ausdrucksschwächen, Ausdrucksfehlern, Hilfsverbkonstruktionen. Gab es ein Lektorat, fragt man sich; denn im Impressum findet sich hier kein Verweis. Auch das Korrektorat ist nicht fehlerfrei, gleich auf der ersten Seite auffällig. Ich war mehrfach drauf und dran abzubrechen, weil die Sprache und der gesamte Aufbau der Geschichte mich nicht überzeugen konnten. Frank Petersen ist Strafrichter aus Leidenschaft und er fühlt sich als unfehlbar, als einer, der stets nach Recht und Gesetz seine Urteile fällt. Doch in letzter Zeit macht ihm der BGH einen Strich durch die Rechnung, kippte drei seiner Urteile, ein viertes liegt zur Prüfung beim Bundesgerichtshof vor. Seine Frau und sein Sohn sind gerade für unbestimmte Zeit ausgezogen, weil auch sie eins seiner Urteile persönlich getroffen hat. Seine Frau wirft ihm vor, er sei selbstherrlich und lasse sich bei seinen Urteilen von seinen Vorurteilen leiten und er sei rassistisch. Es geht um den Fall Korkmaz, bei dem herauszuhören ist, dass hier der Vater der Freundin seines Sohns verurteilt worden ist. Sie Beziehung seines Sohns mit einer Kurdin scheint Petersen im Allgemeinen nicht ganz recht zu sein. Die Familie wirft ihm vor, dass er den Fall wegen Befangenheit hätte ablehnen können. Leider erfährt der Leser erst im letzten Drittel, worum es bei diesem Fall gegangen ist. Ich habe das als störend für das Verständnis des Konflikts empfunden. Der Konflikt in diesem Roman ist der innere Konflikt in Petersen selbst: Habe ich alles richtig gemacht, bin ich unfehlbar oder trübt mein Weltbild meine Urteilskraft? Und so nimmt er sich Urlaub, renoviert das Haus, kommt dann auf die Idee, Corinna Maier aus dem Gefängnis abzuholen, die damals vor seinen Augen im Gerichtssaal den Angeklagten erschoss. Ein zweiter Stang behandelt die Lebensgeschichte von Corinna Maier, die interessant gestaltet ist. Aber leider wird ihre Selbstjustiz mit keinem Wort hier abgehandelt, überhaupt je in Frage gestellt – genau das wäre interessant gewesen. Auch der Fall Korkmaz ist letztendlich in der Auflösung nur ein paar Zeilen Wert. Juristisches Glatteis wird in diesem Roman nie bestiegen, Moral nie hinterfragt. Die ganzen philosophischen Aspekte, die sich in der Rechtsprechung auftun, werden außer Acht gelassen. Hier geht es um Petersen, um nichts anderes. Sämtliche Protagonisten sind ihm untergeordnet aufgebaut, zu unterstreichen, was Petersen für ein toller Typ ist. Selbst die ihm unterstellte Fremdenfeindlichkeit bekommt ein Gesicht: Um Corinna Maier aus dem Knast abzuholen, muss er nach Husum reisen und kehrt in ein kleines Hotel ein, das einem türkischstämmigen Ehepaar gehört. Na sowas, die Besitzerin kann leckere Pfannkuchen und Waffeln backen, die muss man ja liebhaben und der Ehemann trinkt mit Petersen spät am Abend Schnaps, weil Allah das im Dunkeln nicht sehen kann – wo die Wirtsstube hell beleuchtet ist. Zwischendurch musste ich immer weder blättern, es wiederholt sich einiges wie ein Mantra. Am Ende ist alles gut, denn alle Protagonisten, einschließlich der Richter im BGH geben Petersen recht, der Freund gibt zu, einen Fehler gemacht zu haben, auch die Ehefrau kommt zur Einsicht, dicke Freundschaft mit Frau Maier, für sie eine erfreuliche Zukunft – schöner kann ein Ende doch gar nicht sein – zumindest für den unfehlbaren Petersen. Och nö. Sprachlich und inhaltlich keine Glanzleistung, Spannung mäßig, alles in allem eine flache Story zu einem großen Thema. Markus Thiele ist Schriftsteller und Rechtsanwalt und kennt das Gerichtswesen mit all seinen Stärken, aber auch seinen vielen Schwächen. Er widmet sich in seinen Romanen juristischen Grauzonen mit moralischer Brisanz und verwebt dabei gekonnt Fiktion und Realität anhand zugrundeliegender wahrer Kriminalfälle. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Göttingen.

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