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gwyn

Posted on 11.1.2022

«Der Zeitungsartikel, mit dem alles begann, stand nicht einmal auf der Titelseite, sondern war nur ein Füller auf Seite fünf, zwischen einer Werbung für Patricia Brixies Tanzschule und einem Bericht über die Jahreshauptversammlung der Crofton North Liberals. Es ging darin um das Ergebnis einer neueren Studie zur Parthenogenese bei Seeigeln, Fröschen und Kaninchen, die zu dem Schluss kam, es gäbe keinen Grund, sie bei Menschen nicht auch für möglich zu halten.» Den Roman angefangen zu lesen – gut, aber was haben sie bloß alle mit diesem Buch?, dachte ich. Und dann hat es mich nach einem Viertel gepackt, eine fast durchlesene Nacht folgte. Das Ende – Schnappatmung. Das Setting ist in den Südwesten von London gelegt, 1957. Jean Swinney, fast vierzig ist Redakteurin bei der lokalen Tageszeitung «The North Kent Echo». Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter, die sich darauf zurücklegt, nicht mehr gut laufen zu können, das Haus nie verlässt, sich von der Tochter bedienen lässt, ihre volle Anteilnahme verlangt. Als sich bei der Redaktion eine junge Frau auf einen kleinen Zeitungsartikel meldet und behauptet, ihre Tochter sei das Ergebnis einer unbefleckten Empfängnis, wird Jean mit der Überprüfung der Angelegenheit beauftragt. Jean ist skeptisch. Ist Gretchen Tilbury eine verhuschte Frau, die lediglich Aufmerksamkeit erhalten möchte, oder hat sich an ihr tatsächlich eine Parthenogenese vollzogen? Nach einem Besuch bei ihr, ist Jean unsicher. Diese Frau stellt sich weder in den Vordergrund, noch will sie große Öffentlichkeit erhaschen, sie will lediglich klarstellen, dass es solche Wunder zu geben scheint. «Und sie glaubte Ihnen?› ‹Natürlich.› ‹Nicht alle Mütter wären so zugänglich.› Jean dachte an ihre eigene Mutter und musste ein plötzliches Aufwallen von Hass unterdrücken. ‹Aber sie wusste, ich konnte keine Beziehung mit irgendeinem Mann gehabt haben. Sehen Sie, zur Zeit der vermuteten Empfängnis war ich in einer Privatklinik und wurde wegen schwerer rheumatischer Arthritis behandelt. Ich war vier Monate bettlägerig, in einem Krankensaal mit drei anderen jungen Frauen.» Natürlich mag Jean nicht ihren Gefühlen trauen, nur weil Gretchen sympathisch und bescheiden ihre Geschichte erzählt. Vielleicht liegt die Frau selbst einem Irrtum auf. Und so beginnt Jean zu recherchieren. Eine Ärztin ist sehr interessiert, nimmt Gretchen und ihre Tochter in ein Programm zur Parthenogenese auf, die dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht. Jean fährt zu der Klinik und versucht, die ehemaligen Patientinnen und Pflegekräfte ausfindig zu machen, um von ihnen zu erfahren, ob du der Zeit damals wirklich kein Mann Zutritt zu dem Sanatorium hatte. Immer wieder trifft sie sich mit Gretchen, lernt ihren Mann Howard und ihre Tochter Margaret kennen. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihr und der Familie, die Mal für Mal festere Bande bekommt. Die perfekte Familie! Je tiefer Jean eindringt, um so mehr offenbaren sich feine Risse. «Nach dem Tee – Leber mit Zwiebeln, gekocht von Jean, und ein Pudding aus eingemachten Birnen mit Büchsenmilch – jätete und wässerte Jean das Gemüsebeet, während ihre Mutter auf einem Liegestuhl saß und ihr Büchereibuch in der Hand hielt, aber nicht wirklich las. Sie saß nie allein draußen, hatte Jean bemerkt, und wenn das Wetter noch so schön war, sondern nur, wenn Gesellschaft da war..» Viel mehr will ich nicht verraten. Die Geschichte hat eine Menge Wendungen, ist voller subtilen Humors und Wärme. Eine Jean, die sich aus den Klauen ihrer Mutter zu befreien beginnt, die sich kleine Freunden nimmt, die sich eine eigne Familie wünscht; eine Freundschaft zwischen zwei Frauen, die einsam sind. Tiefe Gefühle und Wünsche von Menschen, die in ihrem Lebensbereich gefangen sind, in der Trostlosigkeit ihres Lebens, Träume versus Pflichtgefühl und Verantwortung. Hier schafft de Autorin es, sprachlich wundervoll landschaftliche Szenarien in die Gefühlswelt einzubinden, zu unterstreichen. Clare Chambers setzt das Gefühl für das Ende der Fünfziger wundervoll in Szene, vom Pudding aus Dosenbirnen und Kondensmilch, Häkeldeckchen, bis hin zu der schneidernden Gretchen, die Kleider entwirft, einschließlich den gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen. Jean ist in der Zeitung für die Haushaltskolumnen zuständig, die immer wieder mal eingeblendet werden und für die Beantwortung der Leserpost – eine humorvolle Nebensache. Eine Mischung aus Gesellschaftsroman, Familienroman und Liebesroman; auf jeden Fall empfehlenswert! Das Buch stand auf der Longlist für den diesjährigen Women’s Prize for Fiction. «Sie hatte entdeckt, dass man unmöglich denken, grübeln oder sich quälen konnte, während man laut vorlas. Der Haushalt, das Hören von Musik, Lesen oder irgendeine der anderen üblichen Ablenkungen konnten das Getöse in ihrem Kopf nicht zum Schweigen bringen.» Clare Chambers wurde 1966 in London geboren. Sie unterrichtete Englische Literatur in Oxford, bevor sie für die bedeutende Verlegerin Diana Athill erst als Sekretärin, später als Lektorin zu arbeiten begann. Nach acht Romanen und einer Schreibpause von zehn Jahren wurde Kleine Freuden ein durch Mundpropaganda erzeugter Überraschungsbestseller. Die Mutter dreier erwachsener Kinder lebt mit ihrem Mann im Südosten Londons.

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