gwyn
Dieser Comic hat mich total begeistert! In die Zeichnungen von Amélie Fléchais muss man sich verlieben! Rotwölfchen soll der Oma etwas zu essen bringen ... man ahnt es schon. Aber wer meint, diese Comicadaption sei einfach ein Umdrehen der Geschichte vom Rotkäppchen, der liegt falsch. Diese Geschichte ist wesentlich besser! Es war einmal eine Wolfsmutter, die schickte das kleine Wölfchen zur Großmutter, um ihr ein Kaninchen zu bringen, denn die Oma war zum Jagen viel zu alt. Man nannte das Kind Rotwölfchen, weil es einen wunderschönen roten Mantel trug. Und die Mutter mahnte das Wölfchen: «Doch gib gut acht und meide den Wald mit dem toten Holz, wo der Jäger und seine Tochter leben. Sie sind niederträchtig, grausam und hassen uns Wölfe!» Aber unser Rotwölfchen ist eben ein Kind. Im Wald ist es abenteuerlich, es gibt schöne Dinge zu entdecken. So springt das Wölfchen hier und und dorthin, anstatt auf dem Weg zu bleiben, läuft einem Käfer nach und einer Pollenwolke, krabbelt in Gänge. Und plötzlich hat es sich verlaufen. Und es ist hungrig. Das Kaninchen aus dem Beutel duftet verführerisch. Großmutter wird nicht böse sein, wenn man einen kleinen Happen nascht. Noch ein wenig und ... am Ende ist das Fleisch aufgegessen. Das Wölfchen weint dicke Tränen. Das wird sicher zu Hause Ärger geben. Verlaufen, Kaninchen aufgegessen, allein. Rotwölfchen ist verzweifelt. Doch plötzlich steht ein freundliches Mädchen vor ihm. Es nimmt das Wölfchen bei der Hand und verspricht ihm, es aus dem Wald zu führen. Noch viel besser: Das Mädchen züchtet Kaninchen, will ihm eins abgeben. Gerettet! Auf dem Weg zum Haus vom Mädchen fängt dies an, ein Lied zu singen, eine Legende aus alten Zeiten. Angekommen an ihrem Haus will das Mädchen Rotwölfchen die Kaninchen zeigen. Von wegen! Das Wölfchen wird eingesperrt! Nun muss das Mädchen nur noch auf ihren Vater warten, ihm den Wolfsfang zeigen. Er wird mächtig stolz auf sie sein! Dann werden sie die bösartige Bestie töten – wie die anderen Wölfe auch! Wird es eine Rettung für Rotwölfchen geben? In diesem Comic geht es aber nicht nur um die Umdrehung von gut und böse. In dieser Geschichte steckt viel mehr. Am Ende gibt es noch einen interessanten Twist! Die Geschichte bekommt eine Wendung. Mehr wird nicht verraten. Wenn du Mist gebaut hast, musst du keine Angst haben – ist die erste Message. Wir bringen das in Ordnung, hab keine Angst. Die zweite Message: Gehe nicht mit Fremden mit, egal was sie dir erzählen und wie vertrauensvoll sie wirken! Und am Ende kommen Fake News ins Spiel – die Indoktrinierung von Kindern: Glaub nicht alles, was man die erzählt! Aber das lest lieber selbst. Das Rotkäppchen der Gebrüder Grimm neu interpretiert – viel schöner als das Original. Obwohl, das Ur-Rotkäppchen, bei dem sich die schlaue Großmutter und das Rotkäppchen wehren, den Wolf überlisten und zur Strecke bringen, die gefällt mir viel besser als die neuere, bekanntere Grimm-Version mit Auffressen und Wackersteinen. Das habe ich schon als Kind für unglaubwürdig befunden. Charles Perrault hat 1697 als erster vom «Le Petit Chaperon Rouge» in seiner Geschichtensammlung die Geschichte vom Rotkäppchen samt Auffressen beschrieben. Die Warnung vor dem Sittenstrolch: Denn hier muss sich das Mädchen ausziehen, nackt ins Bett der Oma (Wolf) legen und Oma sieht nackich ganz merkwürdig aus ... Hier werden Großmutter und Rotkäppchen gefressen. Daran orientierten sich die Gebrüder Grimm und andere in weiteren Versionen des Märchens. Die Comicadaption von Amélie Fléchais ist für mich der Knaller schlechthin! Es ist nicht nur eine wunderschöne Geschichte, die mittendrin eine eingebaute Legende erzählt, sondern grafisch ein Meisterwerk. Aquarell und Zeichenstift, im traditionellen Märchenstil machen das Kinderbuch zum Augenschmaus. Atmosphärisch setzt die Autorin ihren Text in Bilder um, die genau die Wirkung erzielen, die eine Szene suggerieren soll. Heiterkeit im Wald, Einsamkeit und Scham, das holde blonde Mädchen als Retter, das dunkle Loch, in dem Rotwölfchen landet usw. Ist das überhaupt ein Comic, oder eher ein illustriertes Märchenbuch? Wo fängt ein Bilderbuch an, hört es auf, und wann ist es ein Comic? In diesem Buch gibt es weder Sprechblasen, noch in Einzelsequenzen unterteilte Seiten, keine Zooms und Weitwinkel (Porträts, Halb-Nahe, Over Shoulder Shot, Halb-Totale, Totale, Panorama). Der Comic, die Graphic Novel ist ein Hybrid, genau wie das Bilderbuch. Sie verbinden die Sprache des Wortes und die Sprache des Bildes zu einem Ganzen, visuelle Erzählkunst; die Vorstufe zum Film. Ob nun Bilderbuch oder Comic – das Buch ist einfach klasse! Der Splitter Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahre. Es ist ein Kinderbuch, ein Märchen. Wer seinem Kind das Rotkäppchen vorliest, kann auch zu diesem Buch greifen, das weit weniger gruselig ist. Ab wann Grimmsmärchen für ein Kind geeignet sind, soll jeder selbst entscheiden. Theoretisch ist dies ein Märchenbuch ab 5 Jahren. Leider findet man beim Verlag keine Infos zur Autorin und die Übersetzerin wird erst gar nicht erwähnt. Amélie Fléchais ist eine vielseitige Künstlerin, die in den irischen Animationsstudios Cartoon Saloon, und für den Film Trolls von Dreamworks gearbeitet hat. Sie schreibt und illustriert Bücher, hat beim internationalen Comicfestival in Angoulême 2014 den «Prix BD des collégiens de Poitou-Charentes» gewonnen; dieser Comic, «Le Petit Loup Rouge», erhielt bei der Ankama Éditions, der den Preis «Bestes Illustrationsalbum 2014» und beim Comicfestival in Solliès-Ville und den Preis «À Vos Livres». In Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin Séverine Gauthier, bekam sie beim Buchfest in Saint-Etienne für «L’Homme Montagne» den «Prix Littéraire Jeunesse». Sie arbeitet auch für Jugendzeitschriften und stellt regelmäßig in Europa und den USA ihre Arbeiten aus. Amélie Fléchais wohnt in Nantes.