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gwyn

Posted on 7.1.2022

«Manchmal, selten, wird man im Leben der fatalen Abzweigung gewahr, die eine winzige Handlung birgt. Dass hinter einer trivialen Entscheidung der eigene Untergang lauern kann.» Was ist die Wahrheit? Die Frage stellt sich ein Schriftsteller in einem realen Fall. Kann es so viele unglückliche Zufälle geben? Oder schraubt jemand an den Lebensuhren dieser Familie? Luciana B. wendet sich an den Ich-Erzähler, bittet um Hilfe. Damals, als er sich die Hand gebrochen hatte, wurde Luciana von ihm als Schreibkraft engagiert, um sein handschriftliches Manuskript auf dem PC in Form zu bringen. Eigentlich arbeitete sie für den berühmten Krimiautoren Kloster, der aber genau in dieser Zeit ihre Dienste nicht benötigte. Kurze Zeit später, berichtet sie, Kloster habe sie unsittlich berührt. Sie habe gekündigt und ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt. Für Kloster habe sich daraus eine persönliche Katastrophe entwickelt, und er sinnt seitdem auf Rache nach der kainschen Formel: Sieben Leben für eins! Er habe Teile ihrer Familie umgebracht, drei leben noch – und die sind in Gefahr. Der Schriftsteller hört sich ihre Geschichte an. «Bin ich vielleicht das nächste Opfer?›, erkundigte er sich mit gespieltem Schrecken. ‹Ich weiß, das einige Autoren ihrer Generation mir lieber früher als später einen Dolchstoß versetzen würden, aber ich habe das immer metaphorisch verstanden, ich hoffe nicht, dass Sie vorhaben, zur Tat überzugehen.› ‹Nein; Sie wären nicht das Opfer, sondern derjenige, der sich hinter diesen Todesfällen verbirgt.» Unglaublich – das alles ist Zufall; Luciana ist paranoid. Leidet Luciana unter einer Psychose? Na ja, theoretisch könnte die Geschichte auch stimmen. Der Schriftsteller will sich aber auch die Version von Kloster anhören. Viel mehr wird nicht verraten. Eine feine Figurenzeichnung bildet das Konstrukt des Romans, fast ein Kammerspiel. Der Erzähler ist als Person fast unwichtig, er nimmt die Position des Beobachters ein, der probiert alle Argumente und Gegenargument gegeneinander abzuwägen. Ungeahnte Wendungen, Detailgenauigkeit in der Sache, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen, philosophische Überlegungen, Blickwinkelwechsel, Guillermo Martínez stellt seinem Erzähler und seinen Lesern die Frage: Kann jemand so geschickt morden – der perfekte Mord, aber nicht nur einer? Ein intellektuelles Spiel zwischen den beiden Autoren macht diesen Roman zum Lesevergnügen. Aber auch ein gesetzter Machismo durchzieht das Buch. Beide Schriftsteller bewerten Frauen nach dem Äußeren, bemessen und bewerten Körbchengröße und Hintern, lassen sich von Lucianas Hals erotisch anmachen, und sie meinen beide, dass Luciana ihre sexuellen Übergriffigkeiten selbst provoziert hat, selbst schuld ist. Guillermo Martínez zeigt nicht mit dem Finger drauf. Erst Stück für Stück begreift der Leser, wie ähnlich sich diese beiden Schriftsteller letztendlich sind. Gute Unterhaltung – aber wer Hochspannung sucht, für den ist dieser Kriminalroman eher nicht der richtige Stoff. «Was erzählt denn ein Kriminalroman in erster Linie? Nicht unbedingt die Tatsachen, nicht die aufeinanderfolgenden Leichen, sondern die Vermutungen, die möglichen Erklärungen, das, was dahintersteckt.» Guillermo Martínez, geboren 1962, lebt in Buenos Aires und ist promovierter Mathematiker. Zwei Jahre seiner Doktorandenzeit verbrachte er an der Universität Oxford. Für seinen Krimi «Die Oxford-Morde» erhielt er 2003 den Premio Planeta; der Roman wurde in über 40 Sprachen übersetzt und 2008 fürs Kino verfilmt. Der Nachfolgeband «Der Fall Alice im Wunderland» wurde mit dem Premio Nadal 2019 ausgezeichnet.

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