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gwyn

Posted on 7.1.2022

Der Anfang: «Augenlieder mit ie. Schon wieder ein Rechtschreibfehler im heiligen Text. Nathanael blickte zwischen der Vorlage und seiner Abschrift hin und her. Er hatte das Wort unwillkürlich richtig geschrieben. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Jetzt würde er die letzten Buchstaben mit dem kleinen brüchigen Gummi ausradieren müssen, was schwierig war, weil das Papier leicht zerriss. Erst ein paar Zeilen weiter oben hatte er eine der Markierungen korrigieren müssen und beinahe ein Loch ins Papier gemacht. Eine fehlplatzierte Unterstreichung, und der Text war entweiht, weil der Vorleser dann an der falschen Stelle die Hände zum Himmel hob.» 2045, man erinnert sich an einen Zusammenbruch der Welt, Folgen einer Klimakatastrophe – die nicht näher beschrieben wird. Die Zahl der Menschen ist ziemlich reduziert, es gibt keinen Strom mehr. Zurückbesinnend auf Landwirtschaft hält man sich über Wasser. Es gibt nicht mehr viele Tiere; hier ein paar ausgemergelte Hühner, mal ein paar Schafe ... , viele Menschen finden in diesem Dorf Trost im christlichen Glauben – verdammen die Technik; wissenschaftliche Bücher werden vernichtet. Die industrielle Herstellung von Gütern existiert nicht mehr, es gibt keine Medikamente, die wenigen abgelaufenen Arzneien aus der alten Zeit werden zu hohen Summen gehandelt. Die Menschen wohnen in den Häusern, die von den alten Bewohnern verlassen wurden; viele Gebäude stehen leer, verfallen. «Früher war alles anders. Früher hatten die Menschen einen Pakt mit dem Teufel. Sie lebten länger, aber sie waren unglücklich und nahmen Medikamente, die ihre Seelen vergifteten. Jeder hatte Angst vor dem Tod. Heute haben wir keine Angst mehr.› ‹Ich habe Angst.» Der fünfzehnjährige Nathanael ist ein wissbegieriger, intelligenter Schüler, der Arzt werden möchte, aber seine Mutter ist ganz dem religiösen Wahn verfallen. Sein Lehrer versucht eine Ausbildungsstelle bei einem Arzt in der Zentrale für ihn zu erhalten, was nicht klappt. Und als seine Eltern ihn aus der Schule nehmen, damit er eine Ausbildung zum Prediger beginnen kann, entschließt er sich, das Dorf zu verlassen. Er will nach Italien, denn dort, so sagt man, gibt es ein Polytechnikum, das Mediziner ausbildet. Vanessa wohnt bei ihrer Mutter, die ihr Leben nicht gut geregelt bekommt. Sie steigt in alte Häuser ein, die als gefährlich gelten, die jeden Augenblick zusammenbrechen könnten. Hier findet sie allerlei nützliche Dinge: alte Konserven und Gläser mit Nahrungsmitteln, nützliche Kleidungsstücke, Haushaltsequipment. Doch sie weiß, sie wird bald nichts mehr finden, was sie verkaufen kann, etwas, womit sie die Nahrung zu Hause ergänzen kann. Die Zukunft wird das Ende sein. Darum beschließt auch sie, wegzugehen. Die beiden Jugendlichen verschwinden klammheimlich im Morgengrauen; die Reise könnte gefährlich werden. Als man ihre Abwesenheit entdeckt, wird ihnen Lehrer Ludwig, der wie die Eltern zur Generation «vor der Katastrophe» gehört, geschickt, um die Jugendlichen zurückzuholen. Eine Reise durch eine recht leere Welt beginnt. In ihrem dystopischen Roman erzählt Simone Weinmann von einer Welt, die den technischen Fortschritt verloren hat. Wie sieht eine Gesellschaft aus, der man den Strom kappt? Die Menschen in diesem Dorf in Bezirk Nord 1 ziehen sich auf Gott zurück. Es wird um Ressourcen gekämpft. Es gibt irgendwo eine Zentrale, etwas wie eine Regierung, die von den Bewohnern verlangt, dass sie Bücher, Autobatterien usw. an die Zentrale abgeben. Auch hier bleibt die Autorin recht wage in der Erklärung von Struktur und Gemeinwesen, man erfährt nicht viel über den Dorfrand hinaus. Überall finden sich Reste der alten Zivilisation, mit denen niemand mehr etwas anfangen kann: Autos, elektrische Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik, Züge. Die Autorin hält uns vor Augen, wie abhängig wir uns vom Strom, von der Elektronik, gemacht haben. Licht aus – und das war’s erst mal. Weltweit abhängige Lieferketten machen uns verletzlich. Mir war der Roman zu einfach gestrickt. Der Mensch an sich passt sich immer schnell an und es gibt kluge Köpfe, die sich in ausweglosen Situationen zu helfen wissen. Diese Menschen leben mitten im Zerfall und leben vom Alten, dass sie aus den leerstehenden Häusern sammeln, eine große Depression hat die Leute erfasst. Es ist ja nicht so, dass es heute keine Handwerker mehr gibt: Tischler, Zimmerleute, Schlosser, die schmieden können, Maurer, Bauern, Bäcker, Metzger, Gärtner, die sich mit Pflanzen auskennen (nicht nur die), Töpfer, Ingenieure, usw. Und auch die Apotheker kennen sich mit Heilpflanzen aus, können «Pillen drehen». Die können nicht alle ausgestorben sein. Webstühle sind nicht schwer herzustellen, mit Nadeln nähen ist keine Hexerei, Werkzeug liegt ja überall herum. Aus alten Dingen kann man Neues zaubern. Aber hier gammelt alles vor sich hin! Die Toten sitzen noch immer in ihren Häusern, liegen irgendwo herum. Wann hat die Katastrophe stattgefunden? Es kann maximal 25 Jahre zurückliegen. Und dann stürzen überall die Häuser ein – Zerfall? Die Infrastruktur funktioniert nicht mehr, es gibt keine Lieferketten nach altem System. Die Produktion der Medikamente ist ausgefallen, Rohstoffe fehlen. Alles Wissen ist verschwunden. Nein, so ist es eben nicht! Die Bücher existieren ja noch. Es gab eine Zeit vor der Elektrizität – und darauf wird man sich besinnen. Der Mensch ist unheimlich flexibel und kann sich schnell neu strukturieren. Klar, nach einer Katastrophe gibt es immer Gruppen, die sich im Religiösen verlieren. Aber das wird nicht die Mehrheit sein. Wie hier geschildert, vegetiert die Mehrheit mehr oder weniger unorganisiert vor sich hin, produziert nichts, lebt von den Resten der alten Gesellschaft – nicht vorstellbar für mich. Mich hätte die Zentrale interessiert. Ist man hier organisierter als in dem Dorf und hat man hier Lösungen gefunden oder lebt man hier auch von dem, was man in alten Häusern findet? Während der Pandemie konnten wir sehen, wie schnell sich die Natur regeneriert, Tiere sich bis in die Städte wagen. Auf der Reise durch ein verlassenes Land, in dem nur hier und da ein paar Menschen wohnen, begegnen die Protagonisten nur wenigen Tieren; das hat mich stutzig gemacht. Ein paar verstreute Katzen und Hunde, in Siedlungen beobachten sie Menschen, die wenige abgemagerte Nutztiere halten. Im Süden, direkt vor dem Tunnel nach Italien, treffen auf sie ein paar Tüftler, die probieren, aus der alten Technik etwas herauszuziehen. Die haben mir gefallen. Simone Weinmann schreibt gut, das ist außer Frage. Die Dystopie ist kurzweilig, ich kann mich lediglich inhaltlich nicht ganz mit dem Szenarium erwärmen. Grundsätzlich gut gefällt mir die Offenlegung, der technischen Abhängigkeit der Menschheit und der unaufgeregte Stil des Szenariums, der sich von anderen Romanen dieser Art unterscheidet. Es gibt viele Leerstellen in diesem Buch, die mir einerseits gefallen, an anderen Punkten doch zu wage waren. Der Spannungsbogen hätte für mich ein wenig stärker gespannt werden können. Simone Weinmann hat in Zürich bei Prof. Ben Moore in Astrophysik promoviert und einige Jahre am Max-Planck-Institut in Garching bei München und an der Sterrewacht in Leiden gearbeitet. Heute unterrichtet sie Physik und lebt mit Mann und Kind in Zürich. 2017/2018 war sie Stipendiatin des Roman-Seminars am Literaturhaus München bei Günther Eisenhuber und Annette Pehnt. Die Erinnerung an unbekannte Städte ist ihr erster Roman.

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