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seeker7

Posted on 3.12.2021

Einer der ganz großen amerikanischen Erzähler hat ein Buch geschrieben, dessen Figuren, Inhalte und Botschaften sich um das Thema „Bäume“ rankt. 600 Seiten über Bäume? Kann das gutgehen? Ob und warum das gelingen konnte, will ich im Folgenden darstellen. Das Buch startet mit einer Serien von (scheinbar abgeschlossenen) Kurzgeschichten: In acht Kapiteln werden neun Personen vorgestellt, deren Leben und Schaffen irgendeinen Bezug zum Thema (Bäume) haben. Diese kurzen Erzählungen verbreiten schon so viel Atmosphäre, dass bei mir einen Moment das Gefühl entstand, es könne einfach so weitergehen: Wenn dieses Buch nur weiter aus solchen dichten und anregenden Szenarien bestehen würde, wäre ich vollauf zufrieden. Nach einer kurzen Vergewisserung war dann klar: Die „Wurzeln“ (so ist der erste Teil des Buches benannt) würde zu einem „Stamm“ führen, der die Personen zusammenführt, bevor sie sich dann in einer „Krone“ verästeln und sich in unterschiedlichen Formen von „Samen“ weiterverbreiten. Das ist schonmal eine geniale Idee: einem Buch über Bäume die Struktur eines Baums geben – so verwachsen Inhalt und Metapher zu einem literarischen Organismus. Von den geschilderten – ganz verschiedenen – Ausgangslagen aus entwickeln sich alle Protagonisten zu Umwelt-Aktivisten, klar auf das Ziel zentriert, der Vernichtung der Wälder irgendwie Einhalt zu gebieten. Die Wege und Methoden wandeln sich, sie werden zunehmend radikaler. Warum das so unvermeidlich erscheint und welche dramatischen Folgen das hat, das ist der menschliche Handlungszweig dieses Romans. Das ist ergreifend, emotional, spannend und tiefgründig. Aber – man kann es nicht anders sagen – die Hauptperson dieser mächtigen Erzählung ist der Baum! Der Baum als Gattung, der Baum als Symbol für die (nicht-menschliche) Natur, der Baum in seiner unendlichen Arten- und Formvielfalt, der Baum als Teil des unfassbar komplexen Systems „Wald“, der Baum als wesentliches Element einer – noch in weiten Teilen unverstandenen – Biosphäre, der Baum als lebendige Spur der Geschichte von Jahrhunderten, der Baum als Zeuge für einen unfassbaren und extrem selbstzerstörerischen Feldzug des Menschen gegen seine natürlichen Lebensgrundlagen. Nach der Lektüre dieses Romans wird es wohl nahezu allen Leser/innen völlig ausgeschlossen erscheinen, dass irgendjemand in einer vergleichbaren Intensität, Vielschichtigkeit, Sprachgewalt und mit einer solchen unglaublichen Faktenfülle über Bäume schreiben könnte – ihr Aussehen, ihren Stoffwechsel, ihr Eingebundensein, ihre Kommunikationskanäle, ihren Nutzen, ihre Ästhetik, ihre Ausstrahlung, ihre emotionale Wirkung auf Menschen, … POWERS gelingt dabei geradezu perfekt eine kniffelige Gradwanderung: Er will in seinem ganzheitlichen Ansatz den Baum gleichzeitig mit aller naturwissenschaftlicher Akribie und mit poetischer, geradezu lyrischer Sensibilität erfassen. Methodisch löst er dies auf eine elegante Art, indem seine neun Hauptfiguren unterschiedliche Facetten der „Baum/Mensch-Beziehung“ leben – alle auf ihre Art hingebungsvoll. Natürlich hat POWERS dieses Buch als Appell an die Menschheit geschrieben: „Haltet diesen Wahnsinn der Naturzerstörung auf!“ Das Buch bietet unzählig viele Gründe und Argumente für die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr. Doch der Autor ist kein naiver Gutmensch: Sein Roman beschreibt auch, welche Gefahren lauern können, wenn man sich dem Kampf gegen die mächtigen Gegner vorbehaltlos hingibt. Die offene Frage am Ende des Buches hat damit zu tun, wie viel man als einzelner Mensch beitragen kann und ob der Preis auch zu groß sein kann. POWERS bietet ein ergreifendes, intensives, bewegendes Leseerlebnis. Wenn man sich auf diese Reise einlässt, hat man danach einen anderen Blick auf die Welt, ein anderes Gefühl zur Welt – das geht gar nicht anders! Wie klein wir doch sind – angesichts der Baumriesen! Wie kurz doch unser Leben ist – angesichts der Lebensspanne vieler Bäume! Wie egoistisch und kurzsichtig wir doch sind – angesichts der komplexen Einbettung der Bäume in den Naturkreislauf! Wie anmaßend und ignorant wir doch sind – angesichts unserer Abhängigkeit von der Biosphäre! Dieses Buch vermittelt Demut und Ehrfurcht – ohne auf den Holzweg der esoterischen Beliebigkeit zu verfallen. Es verschafft einen wunderschönen und verstörenden Anlass zum Innehalten. Ein literarisches Juwel! Es ist erst ein paar Tage her, dass ich das aktuelle Buch von POWERS zu meinem Buch des Jahres erklärt habe. Dabei bleibe ich hinsichtlich des Erscheinungsdatums. Für mich aus Leserperspektive stehen im Jahre 2021 jetzt zwei POWERS-Bücher auf dem Siegertreppchen ganz oben.

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