Buchdoktor
“Immer mehr ganz du” hat mit fast 400 Seiten einen für ein Jugendsachbuch ungewöhnlichen Umfang. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass das Buch (für Jugendliche ab 12 und Erwachsene) folgende Schwerpunkte setzt: Jugendliche und die Konflikte, die in ihrem „Inner Circle“ ents Die Kapitel über Gefühle, Beziehungen und Konflikte wirken für die jugendliche Zielgruppe ab 12 sehr tiefgehend und professionell. Im Auge behalten die Autorinnen stets den schmalen Grat zwischen normalen Krisen und psychischen Erkrankungen, die therapeutische Hilfe erfordern. Es geht hier z. B. um das Selbstbild, Selbstvertrauen, den persönlichen Nörgler im Kopf und den „kognitiven Diamanten“ (wenn Denken, Fühlen und körperliche Reaktion sich gegenseitig beeinflussen). Die Autorinnen ermutigen ihre Zielgruppe u. a., kritisch zu hinterfragen, wer daran verdient, dass Schönheitsideale und Bodyshaming meist zum Konsum anhalten … Die Kapitelüberschrift „Gefährlich Gedanken“ finde ich geschickt formuliert, weil sie alltäglichen negativen Einstellungen, Tratsch etc. Raum lässt und nicht gleich mit therapiebedürftigen Störungen ins Haus fällt. Auch das Kapitel zur Sexualität macht einen hilfreichen, seriösen Eindruck. Es setzt den Schwerpunkt beim Grenzen setzen und respektieren, Minderjährige zu schützen und insbesondere Diversität auf der Skala sexueller Identitäten zu respektieren. In „Schwere Zeiten“ geht es explizit um schwere Erkrankungen, Tod, Trennung der Eltern samt Konflikten in neuen Bonusfamilien der getrennten Eltern und dass gut gemeintes Kümmern allein betroffenen Jugendlichen längst nicht weiterhilft. Auch das Kapitel über Psychische Probleme kommt explizit zur Sache mit Angststörung, PTBS, Zwangsstörung, bipolarer Störung, Depression, Psychosen, ADHS, Autismus, Drogen, Essstörungen u. a. Das Themenspektrum zeigt der Zielgruppe auf, dass alle Menschen Probleme, Zweifel und Krisen haben, dass man als Betroffener oder Angehöriger jedoch rechtzeitig erkennen muss, wann Hilfe durch einen neutralen Erwachsenen/Therapeuten nötig ist. Die Autorinnen (als Psychologin und Ärztin) betonen, dass Jugendliche außer Therapeuten weitere Unterstützer brauchen, z. B. die allerbeste Freundin, die sie in der Krise nicht im Stich lässt. Angenehme empfinde ich die stets wertschätzende Sprache der Autorinnen und der Übersetzerin Karoline Hippe, die sicherlich auch erwachsenen Betroffenen guttut. Krisen des Jugendalters werden sachlich dargestellt, ohne Jugendliche als „Problembündel“ zu sehen. Den Autorinnen gelingt es, in einfacher Sprache schwerwiegende psychische Probleme zu erklären und Prozesse verständlich zu machen. Wer zu diesem Thema Texte für Erwachsene in einfacher Sprache sucht oder selbst formulieren will, sollte einen Blick in das Buch werfen. Rein optisch sorgen farbige Seiten, farbige Schrift, ein lockeres Layout und der kräftige Strich der Illustratorin Kristine Sand für einen niederschwelligen Zugang zu den sehr ernsten Themen. Der Band ist bewusst zum darin Blättern angelegt und kann wie ein Lexikon benutzt werden. Das Literaturverzeichnis, die Liste von 30 Experten, die die Autorinnen beraten haben, und der Service-Teil mit Anschriften von Beratungsstellen hinterlassen einen seriösen Eindruck. Eltern sind häufig skeptisch, ob 12-Jährige sich bereits mit den og. Problemen und Erkrankungen befassen sollten. Meine Erfahrung ist, dass Jugendliche als Mentor, Klassensprecher, Trainer schon früh existenzielle Krisen Gleichaltriger erleben und es sehr hilfreich sein kann, wenn sie sich (als Nichtbetroffene, aus sozialem Interesse) bereits mit psychischen Erkrankungen befasst haben. Mit seiner Themenwahl und der unaufgeregten wertschätzenden Sprache empfehle ich das Buch interessierten Jugendlichen wie Erwachsenen, Schulbibliotheken und Therapeut/Innen für ihre jungen Klient/Innen.