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mabuerele

Posted on 29.11.2021

„...Der Weg in die Freiheit, in die Unabhängigkeit und weg vom Vater, weg von einem potentiellen Gatten, unter dessen Tisch man als Frau dann die Füße zustellen hatte. Das war nur eine der Vorzüge ihrer neuen Familie, die sich Deutsches Rotes Kreuz nannte...“ Es sollte nicht lange dauern, bevor Inge begreift, wie weit weg ihre Träume von der Realität sind. Sie hatte als eine der Besten in Nürnberg ihre Ausbildung zur DRK – Schwester abgeschlossen und hoffte auf einen Einsatz in Nordafrika. Ihre Freundin Annemarie hatte sich für Paris beworben. Doch das Schicksal will es anders. Wir schreiben das Jahr 1943. Beide werden nach Charkow abkommandiert. Die Autorin hat einen spannenden historischen Roman geschrieben. Die Geschichte beginnt in der Ukraine und wechselt dann nach Italien. Im Mittelpunkt aber stehen Inges Erlebnisse und ihre Entwicklung. Die Personen werden gut charakterisiert. Besonders aber gefällt mir, dass es genügend Raum für ihre Entwicklung gibt. Das wird bei Inge deutlich. Die kritische Einstellung ihres Vaters gegenüber dem Krieg und dem Regime kann sie am Anfang nicht nachvollziehen. Sie glaubt der offiziellen Propaganda. Das aber sollte sich bald ändern. Bei der Auszeichnungsveranstaltung in Nürnberg entlässt sie Schwester Mathilde mit folgenden Worten: „...Sie müssen sich immer eines vor Augen halten: Der Krieg ist etwas Furchtbares. Daran können wir nichts ändern, aber indem wir unsere Pflicht erfüllen, tun wir Gutes...“ Bei der Ankunft in Charkow wird klar. Auf das, was die jungen Frauen hier erwartet, hat sie nichts und niemand vorbereitet. Der Tod ist alltäglicher Gast im Lazarett. Die Autorin beschönigt nichts. „... Seife und antiseptische Lösungen sind Mangelware. Gehen Sie sparsam damit um. Zur Desinfektion verwenden wir Alkohol...“ Realistisch schildert sie die Zustände. Triage ist Regel, nicht Ausnahme. Annemarie nutzt eine Gunst der Stunde auf ungewöhnliche Weise, um in die Heimat zurückbeordert zu werden. Inges Können macht sie zu einer unentbehrlichen Helferin im OP. Ihr Vater, eine Schneidermeister, hatte ihr den Umgang mit Nadel und Faden beigebracht. Zur Beruhigung spielt Inge auf ihrer Geige. Das wirkt auch positiv auf die Kranken. Sie hat es einem Offizier zu verdanken, dass dies möglich ist, denn die Oberschwester ist dagegen. Dann wird Oberstleutnant Heinrich Preuss ins Lazarett eingeliefert. Er erreicht, dass Inge bei den Offizieren eingesetzt wird. Ab und an wirkt er erstaunlich offen: „...Mit der Zeit stumpft man ab. Es geht ums eigene Überleben. Der Krieg macht die Menschen zu Bestien. Das ist nur eine Lektion, die ich an der Ostfront gelernt habe...“ Als Inge bei den Schwerverletzten gearbeitet hat, erfährt sie vieles über die Gräueltaten des Krieges. Wer im Sterben liegt, will reden, auch über Dinge, die sonst tief im Inneren versteckt sind. Und wenn kein Priester zugegen ist, redet man mit den Krankenschwestern. Preusss kennt die Lage. Charkow ist nur noch wenige Tage zu halten. Er organisiert für sich und Inge die Verlegung nach Italien. Er lässt Inge selbst entscheiden. Sie weiß, dass Preuss ein Mann mit zwei Gesichtern ist, mal feinfühlig und an Kunst interessiert, mal kalter Wehrmachtsoffizier. Trotzdem geht sie mit ihm In Italien ändert sich der Charakter der Erzählung. Einerseits wird deutlich, wie die italienische Bevölkerung zwischen dem deutschen Heer und den Armeen der Alliierten zerreiben wird. Andererseits entwickelt sich jetzt eine Liebesgeschichte zwischen Lorenzo, einem jungen Italiener, und Inge. Zunehmend weiß Inge, dass sie mit dem Feuer spielt. Eine der interessantesten Charaktere ist für mich Preuss. Er liebt Inge, lässt sie dies spüren, wahrt aber Distanz. Manche der Handlungen oder Äußerungen von Inge hätten sie normalerweise ins Gefängnis gebracht. Preuss aber geht darüber hinweg. Andererseits kennt er dem Feind gegenüber keine Kompromisse. Er weiß allerdings, dass er mit diesen Entscheidungen Inge verstört. Für sie ist jedes Menschenleben wertvoll. Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich würde das Buch als Antikriegsbuch bezeichnen, weil es all die dunklen Seiten des Krieges ungeschönt wiedergibt.

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