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Momo

Posted on 28.11.2021

Ein interessantes und imposantes Sachbuch über die Entstehungsgeschichte der Protagonistin namens Alice im Wunderland. Total spannend zu lesen, wo diese ihren Ursprung hat, wie jene Alice von einer wahren Wirklichkeit in eine fiktive Wirklichkeit den Weg in die surreale Bücherwelt hat finden können. Es gibt ein Double an Alice, das allerdings von ihrer äußerlichen Form nicht unterschiedlicher sein kann. Die wichtigsten Fakten Der Vater dieser märchenhaften Figur ist der britische Mathematikdozent Charles Ludwige Dogsen, 1832 bis 1898, nahm 1856 seinen Künstlernamen Lewis Carrol an. Ein Londoner Verleger namens McMillian brachte das erste Kinderbuch Alice im Wunderland (Alice`s Adventures in Wonderland) 1865 heraus, das sich inhaltlich in seiner exorbitanten Größe gänzlich von allen anderen Kinderbüchern unterschied. 1872 fand eine Fortsetzung mit dem Titel Alice hinter den Spiegeln (Through the Looking-Glass) statt. Auf den ersten Blick alles Nonsens - Geschichten, weshalb es wie ein Wunder ist, dass Caroll einen Verleger hat finden können, der sich von diesen märchenhaften, skurrilen Figuren, die hauptsächlich den Erwachsenen widerspiegeln, nicht abschrecken ließ. Die einzig Normale schien die kleine abenteuerlustige und fantasiebegabte Alice zu sein, der dadurch kein Problem unlösbar erschien, während im Umkehrschluss, aus der Sicht der Erwachsenen, sie als normal galten und Alice als die "Verrückte". Der Unterschied zu den herkömmlichen Kinderbüchern war, dass dieser Kinderband keinen moralischen, erzieherischen und auch keinen religiösen Auftrag zu erfüllen hatte. Alles durfte sein, nichts war verboten … Das Kindermärchen wurde noch durch den Satiriker John Tenniel illustriert. Allerdings war Tenniel nicht der einzige Künstler, der sich an diesen Bänden kreativ beteiligte. Man will es nicht glauben, aber es sollen über hundert weitere Künstler gewesen sein, die sich an dem Bildband betätigt hatten. Dass der Autor dies so großzügig zulassen konnte, finde ich erstaunlich. Und doch passt alles gut zusammen, als würden die vielen unterschiedlichen Maler alle über ein und dieselbe Handschrift verfügen. Es war nicht nur ein Kinderbuch, sogar Erwachsene bedienten sich der Geschichten. Selbst Politiker zitierten 153 Jahre später daraus. Zitat: "Die “Alice”- Bücher gehören zu den meistzitierten, am häufigsten angeführten, bekanntesten Büchern in englischer Sprache, (...) denen zudem nachgesagt wird, sie hätten den Lauf der Kinderliteratur geändert - durch eine bis zur Anarchie reichende Parteiname für den kindlichen Leser und die kindliche Leserin. Aber das ist es nicht, was für die Fans so faszinierend macht und für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Tausende von Artikeln und Hunderte von Büchern darüber hervorgebracht haben. Sie unterscheiden sich von den meisten Kinderbüchern, die vor ihnen (und den meisten, die nach ihnen kamen) durch ihre schiere Dichte: Es gibt kaum einen Satz, der nicht mehrere Bedeutungen, vielerlei Scherze, zu, verschlüsselte Anspielung auf intellektuelle, politische und persönliche Dinge transportieren würde. Da gibt es keine Überlänge, kein Beiwerk, keine Nebensächlichkeiten, kaum irgendeine Abweichung von einer auf das Kind ausgerichteten Erzählstimme: Wir haben viel mit Büchern zu tun, in denen ein erstaunlich beweglicher, komplexer und spielerischer Geist unmittelbar und empathisch mit seinem Publikum kommuniziert." (2020, 9) Alice im viktorianischen Zeitalter Die Alice – Bücher entstanden alle im viktorianischen Zeitalter, eine Zeit, die geprägt war von sozialen und religiösen Gegensätzen, aber auch eine Zeit, die geprägt war von hohen moralischen und sittenstrengen Maßstäben, dazu noch ein Land, das primär als kinderunfreundlich galt. Da passte Alice als ein absoluter Kontrast in dieses Zeitgeschehen rein, völlig konträr und dazu noch in provokativer Form adäquat zu einer Queen Viktoria, die an bürgerlichen Traditionen und Konventionen regelrecht festhielt, und die absolut auch in diesen Büchern gespiegelt wird. Die Queen lehnte sogar die Frauenrechte ab, während Alice für mich für die damalige Zeit eine durchaus emanzipierte Figur darstellte. Für ein Mädchen frech, selbstbewusst, autonom, intelligent und abenteuerlustig zugleich. Alles Tugenden, die eher Jungen vorbehalten waren ... Erstaunlich, dass die fiktive Alice es dennoch in die fantastische Welt der Bücher schaffen konnte, ohne den Autor politisch mit Ausschluss zu sanktionieren. Wer ist Alice? Alice Liddell und Alice im Wunderland Man bekommt es mit der realen und der fiktiven Alice zu tun. Der Autor war sehr kinderlieb und pflegte eine tiefe und langjährige Freundschaft mit der kleinen sechsjährigen Alice Liddell, die von 1852 bis 1934 gelebt hat. Alice Liddell hat allerdings von ihrem äußerlichen Porträt gar nichts mit der fiktiven Alice gemein, aber recht viel mit der inneren Alice. Alice Liddell hat kurze dunkle Haare, während der Satiriker Teniell die fiktive Alice mit langen, blonden Haaren illustriert hatte. Dieser pflegte nämlich die Vorstellung eines modischen präraffaelitischen Mädchentyps, entstammt aus einer modischen Kunstform (Mitte des 19. Jahrhunderts), die bekannt ist für ihre leuchtenden und lebendigen Farben. "Denn obwohl die Bücher für die “echte” Alice geschrieben waren, war Alice Liddell nicht die einzige “kindliche Freundin” in Dogdsons Leben - und nicht einmal die einzige namens Alice. Wie bei fast allen Aspekten dieser Bücher haben wir es mit etwas Vielschichtigem zu tun. "(27) Doch Alice Liddell wusste, dass sie die Alice aus dem Buch war. Im Alter von zwölf Jahren bekam sie das erste Exemplar, ein handgeschriebenes- und illustriertes Buch, in dem sie selbst als die Hauptfigur dargestellt wurde. Vieles, was sie an Gedanken und Fantasien ihrem Freund Dogson heraussprießen ließ, fand sie in den gedruckten Werken wieder. "Und ich wollte, ich könnte euch auch nur die Hälfte von dem erzählen, was bei Alice alles mit den Worten anfing “Tun wir doch so, als ob”. Erst gestern hatte sie sich mit ihrer Schwester verzankt, weil sie gesagt hatte: “Tun wir doch so, als ob wir Könige und Königinnen wären!” Aber ihre Schwester, die immer alles sehr genau nahm, hatte eingewandt, das könnten sie nicht, weil sie nur zu zweit seien, und da blieb schließlich Alice keine andere Antwort mehr als: “Gut, dann bist Du eben einer davon und ich alle übrigen”. (57) Dem Autor war es wichtig, seine junge Leserschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Unabhängig davon, ob seine symbolträchtigen Geschichten entschlüsselt werden konnten oder nicht. Alice identifizierte sich sogar mit einigen anderen Figuren aus den Bänden. Cover und Buchtitel Das Cover finde ich wunderschön, das supergut zum Buchtitel passt. Was mag sich nur hinter dem Vorhang verstecken? Wohin führt diese winzige rote Türe? Und man kann weiter spinnen, dass Alice´ kindliche Neugier keine Ruhe findet, bis sie es herausgefunden hat. Keine Tür ist zu klein, kein Objekt zu hoch, sie kann sich allen widrigen Umständen gegenüber magisch verwandelnd spielerisch hingeben, um Antworten zu finden. Zum Schreibkonzept Dieser von Peter Hunt sehr gut recherchierter Bild- und Buchband ist neben einer Einleitung auf 127 Seiten in sechs Kapiteln gepackt. Im Anschluss daran ist ein Anhang zu entnehmen, bestehend aus einer Anmerkung, weiterführender Literatur, Abbildungsnachweis und aus einem Register. Auf jeder Seite sind wunderschöne Illustrationen abgebildet, gemixt mit Fotografien verschiedenster Personen aus der Lebenswelt des Autors, die an dem Kinderbuch mitgewirkt haben. Auch findet man mehrere Fotos von der kleinen, sechsjährigen Alice begonnen, bis hin zu der älteren und reifen Alice als Dame. Meine Meinung Ein fulminantes Entstehungsbuch, das in mir die Lust wecken konnte, diese Jugendbücher aus meinen Kindertagen nochmals lesen zu wollen. Ich wäre dazu wahnsinnig interessiert, da mich die vielen Archetypen an C. G. Jung denken lassen, der sich über das kollektive Unbewusste in seinen Büchern ausgelassen hat. Symbole, die mit unterschiedlichen Hintergründen aber bei jedem Menschen dieselbe Bedeutung haben, unabhängig von geografischer und kultureller Herkunft. Unsere nächtlichen Träume scheinen auf den ersten Blick ähnlich wie die Alice-Bände auch sinnlos zu wirken, weil sie häufig schräg, dadurch abstrus und wenig realitätskonform erscheinen, aber tiefenpsychologisch sind sie alles andere als Unsinn, wenn man sich die Mühe macht, die Symbole zu entschlüsseln. Und so stelle ich mir auch die Bilder in den Alice - Büchern vor, die in Wirklichkeit alles andere als bedeutungslos sind. Ich werde mir diese Bücher demnach auf jeden Fall nachbestellen. Außerdem hege ich ein großes Faible für die Kunst, die surrealitisch geformt ist. Was wusste ich damals als Kind schon von Archetypen und deren tieferen Bedeutung? Aber ich erinnere mich, dass ich alles Schräge liebte und alles Brave und Angepasste nur langweilig und fad fand. Ich bewunderte damals die Alice, die so sein durfte, wie sie war, ohne jedes Mal abgestraft zu werden. Alice lebte absolut autonom; in ihrer Welt gab es keinen Erwachsenen, der sie in ihrem Wirken aufhalten und beschränken konnte. Mein Fazit Ein Muss für alle Fans dieses Genres. Sehr bereichernd und sehr aufschlussreich, was die Alice in doppelter Form betrifft. Es gibt darin noch viel Faktisches zu entnehmen, das ich zum Selberentdecken nicht erwähnt habe.

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