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gwyn

Posted on 16.11.2021

Der Anfang: «Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen. An allem war Franco Andrade schuld, mit seiner Versessenheit auf Señora Marián. Polo hatte nur getan, was der Dicke ihm gesagt hatte, seine Befehle ausgeführt.» Zwei junge Deppen agieren hier als Protagonisten in einer abgeriegelten Urbanisation nahe Veracruz in Mexiko, einer bewachten Wohnanlage – arm gegen reich prallt hart aufeinander, Existenzminimum gegen extreme Dekadenz. Polo ist Gärtner; genau das ist sein Job, dafür wird er bezahlt; ein Gehalt am Abgrund. Aber der Hausherr zwingt ihn zu unbezahlten Überstunden mit Aufgaben, die nicht in sein Gebiet gehören, wie den Partydreck zu entsorgen, Autos putzen. Auf die Bitte, die Extrastunden zu bezahlen, reagiert der reiche Hausherr erst gar nicht. Gern würde er diesem Sohn einer Hure den Autoschlüssel ins Gesicht schlagen, ihm mit seiner Machete den eiförmigen Kopf zertrümmern. Er hasst seinen Job als Gärtner im Paradais. Hätte Polo doch bloß, die Schule beendet. Aber nicht seine Schuld, meint er. Seine Mutter liegt ihm täglich nörgelnd auf der Pelle, malträtiert ihn mit ihren Hausschuhen. Seine Cousine, die er nicht ausstehen kann, lauert darauf, mit ihm Sex zu haben, dem er sich nicht entziehen kann. Drum hat er wenig Lust nach Hause zu fahren. Seine Freizeit verbringt er unten am Fluss mit Franco Andrade, einem Bewohner der Anlage, den er nur deshalb erträgt, weil er Geld hat, um Alkohol zu kaufen. Sie betrinken sich, rauchen, meist saufen sie bis zur Besinnungslosigkeit. Oberschichtssprössling Franco ist ein psychisch gestörter Jugendlicher, fettleibig, einsam und pornografiesüchtig, süchtig nach Chips mit Käsepulver. Seine Eltern haben den Jungen bei den Großeltern im Paradais geparkt, er war aus dem Internat geflogen. Dieser picklige, schwabblige Typ gibt sich obsessiven Vergewaltigungsfantasien hin: Die unerreichbare Nachbarin Señora Marián Maroño will er sich vornehmen. Seine perversen, gewalttätigen teilt der masturbationssüchtige Widerling mit Polo. «Eine verdammte Ungerechtigkeit war es stundenlang darauf warten zu müssen, dass die werten Bewohner und ihre beschissenen Schnorrgäste abzogen, um dann ihren Müll einzusammeln, ihre Bierdosen, ihre dreckigen Servietten, ihre Papierteller mit Essensresten und ihre Kippen, die sie auf dem Boden ausgedrückt oder sogar ins kobaltblaue Wasser des beleuchteten Pools geworfen hatten. Was hinderte diese Leute daran, ihren Abfall einfach in die Mülleimer zu werden? ... aber warum sollten sie es tun, wenn es doch Polo gab ...» In Polos Dorf, er wohnt in einer bescheidenen Wellblechhütte, fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit, scheinen alle Männer kriminell zu sein. Macht zu besitzen ist wichtig, männlich – doch Polo hat weder Macht über seine Mutter, noch über seine Cousine und nicht mal Cousin Miltons Drogen-Gang mag ihn «einstellen»; und am Arbeitsplatz wird ihm durch die Demütigungen seines Chefs überdeutlich, wo sein Platz in der Kette der Gesellschaft ist und in ihm wächst eine unbändige Wut. Eine Welt, die gewaltdurchtänkt ist, frauenverachtend. Der Dicke ist an allem Schuld, so Polo. Die Mutter ist Schuld, die Cousine, die Lehrer, die Arbeitgeber, alle Menschen auf dieser Erde – nur Polo nicht. Polo aalt sich in Selbstmitleid und in seiner Hoffnungslosigkeit, sieht seine einzige Chance in einem Verbrechen – zusammen mit dem Dicken – in diesem Paradis; und sie hecken einen ebenso kindischen wie makabren Plan aus. Zwei dümmliche junge Männer, der eine dick, blond und reich, der andere arm und dunkelhäutig. Einer, der es satthat, auf dem Boden zu schlafen und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, um weiter im Elend zu versinken. Der andere, der immer wieder davon träumt, zwischen den Beinen der wunderschönen Nachbarin zu versinken. Das hört sich zunächst einmal interessant an – aber trotzdem hatte ich meine Probleme mit diesem Roman, der mich oft weiterblättern lies, weil ich das in dieser Form nicht lesen mochte. Fernanda Melchor lässt uns in die Köpfe der beiden Protagonisten blicken. Der Fettsack fantasiert seine Vergewaltigungswünsche, während er sich mit gelbem Käsepulver verschmierten Händen einen wichst, berichtet sabbernd Polo von seine von seinen Fickfantasien. Polo flucht auf die Welt. Es gibt kaum einen Satz ohne Sch ... Ich kenne kein Buch, das so viele Schimpfwörter auf so wenige Seiten bringen kann. Frauenverachtend – alles Schlampen, die haben es nicht anders verdient, dass man sie benutzt – Misogynie ist Normalität. Gewalt und Verzweiflung, unterirdische Wut, möchte die Autorin auf jeder Seite vermitteln, prangert die mexikanische Gesellschaft an und es ist ihr wirklich überwältigend gelungen. Ich kann gut Noir-Romane lesen, Hardcore – aber das hier war mir zu viel. Eine fäkale Sprache, die mich angewidert hat, die Gewaltfantasien seitenlang, immer wieder, auch das brauche ich nicht. Sätze und Eindrücke, die ohne Pause aneinandergereiht sind wie ein Wasserfall, Wortschwall, was nicht unbedingt schlecht ist, aber in dieser Kombination für mich nicht gefällig. Dazu ist der Roman mit seitenlangem Füllmaterial gefüttert, das nichts zur Geschichte beiträgt und das Tempo bremst. Am Ende wird die Erzählung monoton, womit die Handlung weiter verlangsamt. Das Feuilleton hat den Roman hochgejubelt, eine Erzählung mit enormer Wucht, aber ich erkläre mich außerstande, die Schönheit dieser fäkalen Sprache zu verstehen. Es mag ja sein, dass diese Sprache schichtbedingt authentisch ist – aber über den gesamten Roman getragen, war es nicht lesbar. In ihrem Buch «Saison der Wirbelstürme» hatte sie auch eine harte Sprache – hart aber nicht in Dauerschleife fäkal und in Vergewaltigungsfantasien. Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz/Mexiko geboren, studierte Journalistin, gehört zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas. Für ihren zweiten Roman »Saison der Wirbelstürme« erhielt sie 2019 den Anna-Seghers-Preis, den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt und stand auf der Shortlist des International Man Booker Prize. Der Roman erlebte zahlreiche Nachauflagen und wurde in 15 Sprachen übersetzt. 2021/22 ist Melchor Stipendiatin des DAAD in Berlin.

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