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gwyn

Posted on 16.11.2021

Der Anfang: «Mitternacht. Feldgeschütze in der Stanley Street, Barrikaden an jeder Brücke und Kreuzung. Die hellen Flammen der Wachfeuer spiegeln sich rötlich schimmernd auf dem schwarzen, bootlosen River Irwell. Im Rathaus in der King Street klopft James O’Connor den Regen von seiner Melone, knöpft den Mantel auf und hängt beides an einen Haken neben dem Pausenraum. Sanders, Malone und vier, fünf andere schlafen in einer Ecke auf Strohsäcken; die anderen sitzen an den Tischen, spielen Whist, plaudern oder lesen den Courier.» Manchester, 1867. Im Morgengrauen hängen die Männer. Die englische Justiz verurteilte sie als Rebellen, Mitglieder einer staatsfeindlichen Organisation, den ‹Fenians› – die irischen Unabhängigkeitskämpfer. Klare Kante – sagt der Staat. Einsperren, ja gut, aber gleich aufhängen wegen so ein bisschen? – sagt das arme Volk mit der Faust in der Tasche. Constable James O’Connor, ist gerade aus Dublin nach Manchester versetzt worden, strafversetzt; nach dem Tod seiner Frau hatte er das Saufen angefangen. In Manchester gibt es viele Iren, die wegen der Arbeit hergekommen waren und natürlich solidarisieren sie sich mit den Iren auf der Insel. Und nicht jeder Ire ist gleich ein Fenian. Doch diese terroristische Gruppe plant etwas, plaudert man in den Gassen. Sie werden den Tod der Kameraden rächen wollen. Der Ire O’Connor soll Vertrauen zu Landsleuten gewinnen, Kontaktleute anwerben, die für ihre Spitzeltätigkeit bezahlt werden. «Eine Krähe krächzt, als zöge man einen trockenen Korken aus einer Flasche; irgendwo am Fluss klappern Wagenräder und ein Pferd wiehert. Einen langen Augenblick stehen die drei Männer Seite an Seite unter dem schweren Eichenbalken wie grob gehauene Karyatiden, getrennt und doch vereint, dann, erschreckend plötzlich, sind sie weg. Anstelle ihrer lebendigen Leiber bleiben nur drei stramme Stricke, wie lange, lotrechte Kratzer auf der Gefängnismauer. Die Menge hält die Luft an und lässt dann einen langen, kehligen Seufzer fahren, wie eine Welle, die sich vom Strand zurückzieht.» Kriegsveteran Stephen Doyle, ein amerikanischer Ire, Exsoldat, ist heute so etwas wie ein Auftragskiller. Er soll einen Anschlag in Manchester auszuführen und heftet sich zunächst an O’Connors Fersen. Als Erstes muss er herausbekommen, wer die Spitzel wohl sein mögen, sie ausschalten. Alles will gut geplant sein. O’Connor und seine Männer sind in Gefahr. Und er muss wiederum den Amerikaner finden, den man angeblich geschickt hat, um ein großes Ding abzuziehen. Was haben die Fenians vor? Verrat, Schuld und Gewalt – eine Spirale der Gewalt – Gewalt erzeugt Gegengewalt, Rache und Vergeltung, ein nie endendes Szenarium. Die düstere Atmosphäre der armen Leute im Manchester des neunzehnten Jahrhunderts ist spürbar. Der Copkrimi ist an ein reales historisches Ereignis angeknüpft: die öffentlichen Tötung dreier Mitglieder einer irischen Geheimorganisation am 23. November 1867. Nach einem Angriff auf einen Polizeiwagen in Manchester wurde ein Polizist aus Versehen erschossen; bekannt als «Manchester Outrages». Die Verurteilten waren Mitglieder der Irish Republican Brotherhood, auch Fenians genannt, und sie gehörten zu einer Gruppe von 30 bis 40 Fenians, die einen von Pferden gezogenen Polizeiwagen angriffen, um zwei verhaftete Anführer der Bruderschaft zu befreien. Der Wagen war verschlossen und man öffnete ihn durch einen Schuss auf das Schloss. Dummerweise schaute der Polizist, der innen zur Bewachung saß, nicht wusste, was vorgeht, in diesem Augenblick durch das Schlüsselloch. Keiner der Verurteilten hatte den Schuss abgegeben. Sie wurden gehängt und damit zu Märtyrern der irischen Bewegung. Und wir Leser geben O’Connor völlig recht: Das alles hätte nicht sein müssen. Wären sie im Gefängnis gelandet, niemand hätte weiter über die Männer geredet. Aber nun sinnen die Iren auf Rache. O’Connor ist ein Getriebener. Von den englischen Kollegen nicht anerkannt, von den Vorgesetzten unter Druck gesetzt – denn dies ist seine letzte Chance bei der Polizei – die Angst um seine Spitzel, um sein eigenes Leben und seine Dämonen, die ihn treiben lassen, die Flasche. Ein High Noon zwischen O’Connor und Doyle. Interessanterweise ist dieser historische Krimi im Präsens geschrieben. Präsens bringt Tempo und Plastizität. Denn dieser Plot ist rasant. Wer findet wen zuerst und stellt ihm ein Bein? Historisch atmosphärisch ist der Roman hervorragend verortet, Meerschaumpfeifen, Strohmatratzen und Bibermützen; Gerber, Whisky und Bier, verrußte Straßen, schmutzige, dunkle Gassen, Gaslaternen im diffusen Licht, es riecht nach Ruß, Schweiß, Sägemehl und Kloake. Die Perspektivlosigkeit der Menschen ist spürbar – das Auswandern in die USA scheint die Rettung. Doch Heimkehrer zeigen ein anderes Bild. Stimmungsvoll arbeitet Ian McGuire mit bildlichem Ausdruck, ein literarischer Krimi auf hohem Niveau, ein Copkrimi, ein Noirkrimi mit historischem Hintergrund. Absolute Empfehlung für Noir-Fans. Ian McGuire, geboren 1964, ist ein britischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Mit ›Nordwasser‹ war er 2016 für den Man Booker Prize nominiert. Der Roman wurde von der ›New York Times‹ zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gewählt und wird von der BBC zur Serie verfilmt, mit Colin Farrell in der Hauptrolle.

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