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gwyn

Posted on 16.11.2021

«Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand. Egal, ob’s eine Zigarettenkippe oder eine Getränkedose ist. Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand. Ihr fasst es nicht an. Hebt nur die Hand. Chief Dubois. Seine Worte wehten zu ihnen herüber, Leute aus dem Ort standen mit den Füßen im Bachlauf, waren bereit. Vorrücken in einer Reihe, jeweils zwanzig Schritte Abstand, hundert Augen mit gesenkten Blicken. Eine Choreografie der Verdammten.» Laut der Werbung des Verlags ebenso bewegend wie «Gesang der Flusskrebse», eine amerikanische Geschichte in gleicher Tonalität. Aber mal ehrlich, dieses Buch kann dem genannten Roman nicht das Wasser reichen! Ab der ersten Seite wurde man hineingezogen, mit Atmosphäre, Poesie, Spannung, Charaktere Sprache; das Gesamtpaket. Aber genau das alles fehlte mir an diesem Roman. Er ist nicht schlecht. Aber die Story plätscherte dahin, die Charaktere so lala, Atmosphäre und Sprache im Mittelmaß. Eins haben beide Romane gemeinsam: Es geht um vernachlässigte Kinder, die sich und ihre Geschwister selbst erziehen müssen, um überforderte Eltern. Eine dysfunktionale Familie, die durch ein Unglück aus dem Lot gebracht wurde. «Du bist nicht zurückgekommen. Du kanntest meine Mutter doch. Hast gewusst, wie sie war und was wir für ein Leben mit ihr hatten. Du hast gewusst, dass sie sich kaum um sich selbst kümmern konnte. Du bist größer als ich. Du bist erwachsen und stark, und wir haben jemanden gebraucht, der ...» Cape Haven, eine Kleinstadt an der Küste Kaliforniens. Der 15-jährige Vincent überfährt im Dunkeln ein Kind, die Schwester seiner Freundin, hat es nicht einmal bemerkt. Das Mädchen ist tot. Der Jugendliche wird zu 30 Jahren Haft verurteilt – er wird in einem Männergefängnis untergebracht. Die Geschichte beginnt an seinem Entlassungstag. Vincent und Star waren ein Paar, zusammen mit Walk ein unzertrennliches Trio. Walk ist heute Polizist, Chief Walker; er hat immer fest zu seinem besten Freund Vincent gehalten, holt ihn am Gefängnistor ab. Er hatte auch immer ein Auge auf Star, die sich von diesem Ereignis nie erholt hat. Die schöne Frau ist noch immer das Begierdeobjekt vieler Männer im Ort. Sie führt ein erbärmliches Leben, alleinerziehend mit ihren Kindern Duchess und Robin, um die sie sich kaum kümmert. Die 13-jährige Duchess kleidet morgens ihren Bruder an, macht ihm Frühstück, liefert ihn in der Vorschule ab und kümmert sich, soweit es geht um den Haushalt, während Star ihren Rausch ausschläft, abends für ein Hungergehalt in Clubs arbeitet. In dieser Kleinstadt kennt jeder jeden. Wie wird die Stadt auf die Rückkehr von Vincent reagieren, der in sein Elternhaus zurückkehrt? Ein Immobilienhai ist scharf auf sein Haus, das einzige in erster Reihe am Meer. Die restlichen Häuser sind bereits aufgekauft; hier soll ein großes Neubauobjekt mit Luxuswohnungen entstehen. Er macht Vincent ein ziemlich gutes Angebot. Mehr sei nicht verraten, weil hier ein Rad ins andere greift – nur so viel noch, die Geschichte verlegt sich nach einem Drittel zum großen Teil nach Montana. Und im Mittelpunkt der Story steht Duchess. Eine Jugendliche, die allein in der Welt steht, viel zu schnell «erwachsen» werden musste, die ihren Zorn auf die Welt jeden spüren lässt. Ihre ganze Aufmerksamkeit liegt auf Robin, ihn zu betreuen und zu beschützen. «... deshalb sagte Hal, er würde sie jeden Tag hinfahren und wieder abholen. Weil ihn das jeden Tag viel Zeit kosten würde, murrte er ein bisschen, bis Duchess sagte, dann würden sie sich eben von einem Kinderschänder per Anhalter mitnehmen lassen. Oder vielleicht könne sie ja auch anschaffen gehen, dann hätte sie Geld für ein Taxi.» Eine Coming-of-Age-Geschichte, die mir am Ende mit zu viel Kitsch endet. Chris Whitaker ist Brite und lebt in Herfordshire; und ich glaube, das ist das Problem der Geschichte. Er beschreibt amerikanische Kleinstädte, die in wunderschönen Landschaften liegen. Davon ist aber nicht viel zu spüren. Ein paar grobe Landschaftsbeschreibungen machen keine Atmosphäre aus – sehende Beschreibungen im Postkartenformat. Es fehlt das Gefühl, der Leser wird nicht hineinversetzt. Das Gleiche gilt für die Kleinstädte. Der Autor ist nicht drin in der Stadt; das liegt an den szenischen Darstellungen. Es sind immer die gleichen Personen, die miteinander sprechen, als säßen sie im Studio. Duchess, eine Mischung aus Kind und Erwachsenen legt sich hochaggressiv und altklug mit jedem an, lässt niemanden an sich heran, quält sich fluchend durch das Leben und droht jedem: «... schneid ich dir den Kopf ab, du A...» Bankräuber Billy Blue Radley ist einer ihrer Vorfahren, ein Outlaw. Und jedem, der es wissen will oder nicht, brüllt sie entgegen: «Ich bin eine Outlaw! Outlaw Duchess Day Radley» Sätze in Wiederholungsschleifen alle paar Seiten. Outlaw Duchess Radley mit Cowboyhut und Knarre auf dem Rachefeldzug ... Ja, es ist letztendlich ein Kriminalroman, einige Protagonisten werden die Geschichte nicht bis zum Ende überleben. Ein Genremix aus Familiengeschichte und Crime, ein Drama. «Wenn Walk schon vorher ein gebrochener Mann gewesen war, dann waren die Einzelteile durch die Ereignisse in Montana jetzt so weiträumig versprengt, dass er die Hoffnung aufgab, jemals wieder ein ganzer Mensch zu werden.» Chief Walker ist ein netter, kraftloser Kerl, der es jedem Recht machen möchte, der Vincent wie einen Heiligen vor sich herträgt. Man sagt ihm Alkoholsucht nach, aber die zitternden Hände rühren von seinem Parkinson her; er nimmt Tabletten, die ihn natürlich einschränken. Käme das heraus, müsste er den Dienst quittieren, was ihn in finanzielle Not bringen würde. Gentrifizierung und Immobilienmafia werden am Rande erwähnt. Es passiert eine Menge in dieser Geschichte, doch so richtig konnte sie mich nicht packen, die Story treibt vor sich hin mit viel zu vielen Strängen. Warum eigentlich Montana? Wegen der Landschaft, die dann nicht transportiert wird? Man hätte diesen Strang schlicht 100 km weiterverlegenlegen können, mit gleichem Effekt – das gab für mich keinen Sinn. In der Mitte hängt die Geschichte sich fest, nimmt zu Ende ein wenig Fahrt auf. Ganz am Ende war ich überrascht, denn nun gab für mich die Protagonistin Star keinen Sinn mehr in ihrer Konstruktion, an der sowieso einiges wackelt. Szenisches Schreiben und plakative Sätze, die bei mir nur Augenrollen verursachten, machen für mich nicht viel her. Der lesenden Taschentuchfraktion wird dieses Buch gefallen. Mich konnte es nicht überzeugen, weder Plot noch Charaktere und schon gar nicht in Atmosphäre, Sprache oder Spannung. Chris Whitaker arbeitete 10 Jahre als Finanztrader, bevor er sein Leben änderte und sich dem Schreiben zuwandte. Seine Romane gewannen zahlreiche Preise, schon jetzt gilt Whitaker in England als Sensation. «Von hier bis zum Anfang» wurde vom Guardian zum Buch des Jahres gekürt. Whitaker lebt zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Söhnen in Hertfordshire.

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