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gwyn

Posted on 16.11.2021

«Sie [Mauersegler] am Himmel ziehen zu sehen ist beinahe unerträglich berührend. Sie ähneln Sternen, Glutfunken, langsamen Leuchtspurfeuern. Selbst durch das Fernglas sind die, die höher fliegen, winzig, geisterhafte Lichtpunkte. Ich weiß, dass sie die locker gekrümmten Zehen an die Brust gezogen haben, dass ihre Augen leuchten und ihre Knochen zart sind und dass sie von dem Willen, nach Norden zu fliegen, angetrieben werden, Nacht für Nacht.» «Später versammeln sie sich höher oben am Himmel. Und dann auf einmal steigen sie höher und höher, bis sie aus dem Sichtfeld verschwinden. Dieses Verhalten wird abendlicher Steigflug genannt oder im Englischen - poetischer - vesper flights, Abendflüge, nach vesper, dem lateinischen Wort für Abend.» Dieser Essayband enthält kleine Geschichten über das Spazierengehen, über die Natur. Aber das ist es nicht allein, denn Helen Macdonald schlägt den Bogen vom Kleinen ins Große. Ob sie von Migräneattacken geplagt, die sie sehr dezidiert beschreibt, die Ankündigung, die man ignoriert, bis der Schmerz anschwillt, sich wie eine Regenwolke von 300 Litern pro Quadratmeter ergießt und den gesamten Körper mit Schmerz überflutet; und sie dann auf den Weltschmerz, die Zerstörung der Umwelt, zur Klimakatastrophe überlenkt. Ob sie nun von Mauerseglern, Nestern, Ameisen, Möwen, Hasen, Hirschen, Füchsen oder Wildschweinen, von Pilzen, Gewitter und Vogelwarten berichtet, stets gibt es Gedanken, die mit dem Menschen verbunden sind. Vorsichtig dem Pirol auf der Spur oder durch das Röhricht kriechend lange ausharrend, um ein Tier zu entdecken, die Autorin nimmt uns mit. Sie berichtet von interessanten und schrulligen Hobbys der Briten. Gerade nach den Weltkriegen war in Großbritannien das Hobby der Ornithologie hoch im Kommen – die Sehnsucht zur Natur, das Entspannen und Vergessen, frei zu sein, wie ein Vogel. «Migräneattacken: Sie sind wie Regen, eine Kugel, die eines Morgens Tage nach der Androhung von Gewalt erst noch in der Kammer steckt. Eine Kugel, die durch eine Sperrvorrichtung rutscht und in den Schlitz deines Rückenmarks fällt ...» Mit «H wie Habicht» wurde Helen Macdonald als erfolgreiche Autorin des Nature Writing gefeiert. Mit «Falke» legte sie nach. Vögel sind ihr Metier, schon als Kind sammelte sie verlassene Nester und sezierte sie, legte tote Vögel auf Ameisenhaufen, um später die sauber abgefressenen Skelette zu untersuchen; sie selbst hält zu Hause einen Papagei. Sie beginnt den Band mit einem Essay über Nester und über einen toten Mauersegler, den sie einst fand; Vögel, die fast niemals den Boden berühren, am Abend als Schwarm in dünne Luftschichten aufsteigen, weit über die Wolken hinaus, die im Fliegen schlafen. Sie beobachtet und erzählt von Phänomenen, berichtet aus ihrer Kindheit, von Jagdgepflogenheiten der Briten. «Bei den meisten boxenden Feldhasen handelt es sich um Häsinnen, die sich der sexuellen Avancen ihrer männlichen Artgenossen erwehren. Sie stellen sich auf die Hinterläufe und versuchen, sie in die Flucht zu schlagen – die tierische Entsprechung einer Form von Gewalt, die ebenfalls ein Merkmal unserer Gesellschaft ist, wenngleich wir erst in jüngster Zeit begonnen haben, offen darüber zu sprechen.» Die Autorin nimmt sich gesellschaftlicher Probleme an und wird auch politisch, soweit man das überhaupt auseinanderhalten kann. Brexit, Rassismus, ein im Stich gelassener Flüchtling, beschäftigen die Autorin. Boxende Hasen – wie können wir (sie) darauf kommen, es handle sich um Männchen, die sich um ein Weibchen schlagen? Es gibt solche Arten, dazu gehört auch der Mensch. Die Natur ist großartig und voller Überraschungen. Hier wehren sich die Weibchen gegen sexuelle Übergriffe. Der Hase, ein magisches Wesen, es gibt nur noch wenige auf der Welt. «In Großbritannien ruft das Töten eines Schwans noch heute ungeheure Entrüstung hervor.» Der Schwan gilt als Symbol des Royalen, und es gleicht einem Angriff auf die Monarchie, fast einen Terroristen gleich, wenn jemand einen Schwan angreift. Geschichtliches, Mythen und Märchen, manche dieser 41 Essays sind knapp, fassen eine gute Seite, andere bringen es fast auf 20 Seiten, einige enden unvermittelt. Ein feines Natur Writing Buch, das aber darüber hinausgeht, mit Fragestellungen an den Menschen und seiner kulturellen Entwicklung, Gedanken dazu, wie die Welt vielleicht zu retten ist und die Frage, ob die Menschheit das will. Der Mensch ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe, die Natur schert sich nicht um uns. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht herausgeworfen werden. «Ich wollte nicht, dass sie wussten, was ich da tat, weil die Kultur des Beobachten von Vögeln in freier Wildbahn zwar die gesellschaftliche Akzeptanz des Weintrinkers besitzt, sich das Halten von Vögeln aber eher wie legalisiertes Canabisgebrauch anfühlt.» Helen Macdonald ist Autorin, Dichterin, Illustratorin und Wissenschaftshistorikerin. Ihr Buch H wie Habicht wurde zum international gefeierten Bestseller, der u. a. mit dem Samuel-Johnson-Preis, dem Prix du Meilleur Livre Etranger und als Costa Book of the Year ausgezeichnet wurde. Sie schreibt regelmäßig für das New York Times Magazine und lebt in Suffolk.

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