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Buchdoktor

Posted on 13.11.2021

Die britische Kunstkritikerin Kirsty Bell kommt mit circa 30 Jahren aus New York nach Berlin und kauft mit ihrem Mann eine Eigentumswohnung mit Blick auf den Landwehrkanal. Als die Beziehung scheitert, sieht sich Kirsty Bell einer ungewöhnlich geschnittenen Wohnung gegenüber, die ihren Bewohnern durch zahlreiche Wasserschäden den Krieg erklärt zu haben scheint. Ein undichtes Dach, eine überlaufende Waschmaschine in der darüber liegenden Wohnung – irgendetwas war immer. Mit sehr persönlicher Sichtweise begibt die Autorin sich auf die Spur eines im 19. Jahrhundert bebauten ehemaligen Gewerbe-Grundstücks mit Wohnhaus und Nebengebäuden, das in einem Dreieck zwischen Bahngleisen und Kanal lag. 1888 war das Haus mit „4 Badezimmern und 9 Klosetts“ durchaus modern, wenn auch ein Bewohner des Seitenflügels seine feuchte Wohnung bei der Polizei anzeigte. Die Geschichte des im Zweiten Weltkrieg nur geringfügig beschädigten Hauses verfolgt Bell akribisch anhand der Grundbucheintragungen.“Ihr Haus“ war 1945 eines von nur drei unzerstörten Häusern im gesamten Karree (Häuserblock). Die Familie Sala betrieb zuvor bis in die 30er Jahre auf dem Grundstück eine Druckerei für Spielkarten und andere Spiele; ihre Adoptivtochter lebte bis in die Gegenwart in einem Seitenflügel des Hauses. Kirsty Bell nähert sich ihrem Thema als Bewohnerin, als Architekturkritikerin und als Einwanderin. Mit feministischem Ansatz hinterfragt sie u. a., wo eigentlich die Geschichte der Frauen jener Epoche geschrieben wird. Sie nennt Gabriele Reuter, Gabriele Tergit, Irmgard Keun und Vicky Baum, über deren Werke sich Leserinnen von heute Frauenschicksalen jener Zeit annähern können. Die reine Geschichte des Hauses liest sich hochinteressant, auch wenn Kirsty Bells Blick mangels Dokumenten über die Firma Sala mir etwas zu ichzentriert scheint und zu wenig auf den Zweck des Gewerbegrundstücks gerichtet. Es gelingt der Autorin sogar, eine langjährige Mieterin aufzutreiben, die die Etage vor Bell bewohnt hat. In die Gegenwart des Grundstücks und der Stadt bewegt Bell sich mittels Themen, die bei deutschen Berlin-Interessierten zur Allgemeinbildung gehören: Sabine Bodes Kriegskinder, Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern, Christiane F., und Christa Wolfs Kindheitsmuster. Ihrem Ansatz, sich ihrem Haus durch Geomantik und Familienaufstellung zu nähern, werden nicht alle LeserInnen folgen können. Der Landwehrkanal und die Spree waren für mich bisher abstrakte Begriffe, weil meine Vorfahren in der geschilderten Epoche stärker auf ihren Kiez zentriert waren und von Dingen erzählten, die unmittelbar vor ihrer Haustür geschahen. Kirsty Bell hat mit ihrem architektonisch geprägten Memoir meinen Blick erweitert – und ich empfehle es Berlin-Interessierten gern.

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