anne_hahn
"Sie segeln von Lerwick aus nordwärts; lange Tage mit Nebel, Eisregen und bitterkaltem Wind, Tage ohne Behaglichkeit, ohne Unterlass, wenn Meer und Himmel sich in eine feuchte Einöde von brodelndem und undurchdringlichem Grau verwandeln. Sumner bleibt in seiner Kabine und kotzt ununterbrochen, kann weder lesen noch schreiben und fragt sich, was er sich da eingebrockt hat." Der zweite Roman des 1964 geborenen britischen Autors und Literaturwissenschaftlers Ian McGuire Nordwasser (2016 als "The North Water" bei Scribner London) erschien 2018 auf Deutsch. Meine Taschenbuchausgabe mit der hochgereckten Walflosse bekam ich von einem Freund zugesteckt, "musst du mal lesen!" Ich las das Buch innerhalb von drei Tagen, es zog mich sofort in seinen düsteren Bann. "Am elften Tag beruhigt sich das Wetter, und sie stoßen auf erstes Meereis: flache, vereinzelte Schollen, mehrere Meter im Durchmesser, die auf den ruhigeren Wellen auf und ab tanzen. Die Luft ist erneut kalt, aber der Himmel klart auf, und in der Ferne sehen sie den weißen, vulkanischen Stummel der Insel Jan Mayen. Säcke werden an Deck gebracht, Schießpulver, Zündhütchen und Flinten ausgegeben. Die Mannschaft gießt Kugeln und wetzt die Messer als Vorbereitung auf den Robbenfang." Der Walfänger „Volunteer“ sticht mehr als hundert Jahre vor der Geburt seines ebendort aufgewachsenen Erfinders McGuire von der Hafenstadt Hull aus in See. An Bord raue Männer ("Abschaum und Dreck des Hafenviertels", wie der Kapitän sie nennt), von denen einer soeben ein Kind getötet hat. Der Schiffsarzt Sumner ist nicht nur seekrank, sondern auch drogenabhängig und kriegsmüde, ihm sind die Menschen egal. Erst als der Schiffsjunge Joseph Hannah, der ihn wegen seiner Bauchschmerzen aufsucht, dem Doktor Blut- und Eiterrückstände in seiner dreckstarren Hose offenbart, wird dieser aktiv. Jemand muss den Jungen mehrfach missbraucht haben. Die große Kunst McGuires ist die Bildhaftigkeit seiner Sprache. Er erspart uns nichts, wir schlingern frierend über Deck, stinken, sind erschöpft und voller Angst. Wer ist die Bestie an Bord und wird das Schiff überhaupt das Nordwasser erreichen? "Sie tragen Hannahs Leichnam in die Offiziersmesse und legen ihn auf den Tisch, damit Sumner ihn untersuchen kann... Zitternd nimmt er Joseph Hannahs unbehaartes Kinn und hebt es behutsam hoch, damit er den dunklen Ring der Blutergüsse um den Hals herum besser sehen kann." An dieser Stelle haben wir noch nicht einmal die Hälfte des 360 Seiten starken Romans absolviert, und ein Mörder an Bord des Walfängers wird nicht die einzige Herausforderung für die Crew bleiben. Es ist die letzte Fahrt des Walfängers... Bei den im Laufe des abenteuerlichen Überlebenskampfes der im Eis gestrandeten Mannschaft folgenden Schilderungen polarer Natur und der Angehörigen der Ersten Nation kamen mir Erinnerungen an The Revenant- Der Rückkehrer (sogar die einem-Tier-in-die Haut-schlüpfen-Szene kommt im Roman vor, es ist aber ein anderes Tier), mich wunderte deshalb kaum, kürzlich die Ankündigung einer Serienverfilmung des Romans zu finden - bin gespannt, ob die Verfilmung mit der eigenen Imagination der Lektüre mithalten kann. Kann schon jemand berichten? Fazit: Der Roman ist eine Extremreise in den polaren Norden und die Abgründe unserer Selbst - grandios, böse, atemberaubend!