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birgit_boellinger

Posted on 7.11.2021

Was anfangen mit einem Leben, wenn man mit Anfang 40 schon alles hat und einen im Grunde nichts mehr interessiert? Leidenschaften und Träume mit dem „modernen Erfolgsmenschenalltag“ nicht kompatibel sind? Hilmar Klute, Chef der Streiflicht-Redaktion der Süddeutschen Zeitung, begeisterte mit seinem federleicht geschriebenen Romandebüt „Was dann nachher so schön fliegt“ Kritik und Leser gleichermaßen. Dort stand dem Protagonisten noch die ganze Welt offen, waren Träume – unter anderem vom Dasein als Schriftsteller – noch möglich. In seinem zweiten Roman, „Oberkampf“, sendet der Schriftsteller nun einen rund 20 Jahre älteren Protagonisten auf Sinnsuche, einen, der seinem selbstgeschaffenen „Museum der Ereignislosigkeit“ entkommen und ebenfalls als Schriftsteller leben möchte. Jonas Becker, ein typischer Vertreter der „Agenturen-Generation“, lässt Frau, Job, Wohnung, sein ganzes bisheriges Leben in Berlin zurück, um in Paris neu anzufangen. Der Zufall will es, dass er in der Nacht vor dem Attentat auf die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ in der französischen Metropole ankommt und sein kleines Appartement in der Rue Oberkampf nahe der Redaktion liegt. Der Anschlag ist ein Ereignis, das die jungen Franzosen, die Jonas in dieser Nacht kennenlernt, bis auf den Kern erschüttert. Insbesondere Christine, die später seine Geliebte wird, will wissen, woher der Hass und der Zorn aus den Banlieues stammen. Jonas dagegen verfolgt die Vorgänge, die Welle der Gewalt, beinahe kalt und analytisch: „Er konnte nichts mehr für dieses Land tun – dieser Gedanke, der aberwitzig und anmaßend war, begann sich in seinem Kopf festzusetzen.“ Für Jonas scheint es klar, dass der Terror, der in jenen Tagen in die europäischen Städte einzieht, sich nicht auf eine Weise erklären ließ, „die über das bloße soziologische Ereignis hinausging“. Ebenso distanziert und beinahe gleichgültig geht Klutes Protagonist jedoch nicht nur mit den politischen Ereignissen um, sondern auch mit den kleineren und größeren menschlichen Katastrophen, die sich in seinem Leben ereignen. Angetreten in Paris, um die Biographie eines egomanischen Schriftstellers zu schreiben, verliert Jonas bald das Interesse an dem Job und dem von ihm bewunderten Richard Stein. Zwar begleitet er diesen auf dessen Suche nach dem drogenabhängigen Sohn in die USA, doch auch dort bleibt er auf Abstand, betrachtet er die Welt distanziert: „Es gab kaum etwas Falscheres auf der Welt als diese Landschaft“. Bei einem schlechteren Erzähler als Hilmar Klute könnte sich die Beschreibung eines gelangweilten Mannes in vorgezogener Midlife-Crisis schnell auf das Gemüt des Lesers schlagen und Langeweile bei der Lektüre verursachen. Doch Klute hat seinen Stoff gut im Griff, bis hin zur bitteren Pointe ganz am Schluss: Jonas, endlich bereit, sich wirklich von allen Lebensfesseln zu befreien, betritt den Pariser Club Bataclan, um ein Konzert der Band „Eagles of Death Metal“ zu besuchen … Klute lässt seinen neuen Protagonisten nicht mehr so hoch und leicht und unbeschwert fliegen, vielmehr ist nun eine leise, untergründige Melancholie in sein Schreiben eingezogen. Dieses Psychogramm eines überdrüssigen, am Leben eigentlich unbeteiligten Mannes stellt ganz leise und behutsam entscheidende Fragen: Unter anderem die, wie man sein eigenes Leben mit Sinn und Gehalt erfüllen will, wenn der Tod in Form des Terrors hinter jeder Clubtür lauern kann. Aber wie der Vorgänger, an dem jeder Roman eines Schriftstellers gemessen wird, ist auch dies ein Buch, das durch seine wunderbare Sprachkraft glänzt. Ganz wenige missglückte Bilder (was ist ein „entzündlich glänzender Mann“ oder warum muss die Metro als „immer bereit gestellter Fahrdienst“ bezeichnet werden?) durchbrechen diese ausgefeilte Sprache, in die man gut und gerne abtauchen kann. Hilmar Klute verbeugt sich mit seinem zweiten Roman auch vor Leonard Cohen, dem im Buch eine wunderbare Referenz erwiesen wird. Da gibt es Parallelen: Beide Künstler sind Suchende, Zweifelnde, Hinterfragende, die mit dem wunderbaren, einzigartigem Talent gesegnet sind, der Melancholie ihre Schönheit zu belassen.

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