letterrausch
Man nehme: ein bisschen Sherlock Holmes, ganz viel Viktorianisches London, eine Prise Steampunk gemischt mit einem guten Schuss Phantastik. Dazu gebe man noch ein paar Kapitel exotisches Setting (in diesem Fall Japan), eine Art Krimiplot und binde das Ganze ab mit faszinierenden Charakteren. Wen dieses Rezept anspricht, der greife zu Natasha Pulleys Debutroman „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ und mache sich darauf gefasst, verzaubert zu werden! Wir befinden uns im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Thaniel Steepleton ist ein Langweiler, wie er im Buche steht – so scheint es zumindest zunächst. Er arbeitet als Telegrafist im Innenministerium und verdient dabei eher bescheiden. Da er außerdem mit einem Großteil seines Verdienstes seine Schwester in Schottland finanziell unterstützt, bleibt für ihn selbst nur ein ziemlich heruntergekommenes Zimmerchen. Freunde hat er keine. Seine Passion für’s Klavierspiel ist schon vor Jahren den Notwendigkeiten und Beschränkungen des Arbeitslebens gewichen. Doch dann wird in sein Zimmer eingebrochen. Der Einbrecher wäscht ab (!) und hinterlässt eine Taschenuhr auf Thaniels Bett. Sechs Monate später wird diese Taschenuhr Thaniel während eines Bombenanschlags das Leben retten und damit kommt die Handlung ins Rollen. Thaniel macht den Hersteller der Uhr, den Japaner Keita Mori, ausfindig. Er zieht bei ihm ein, wird vom Außenministerium engagiert, um den Bombenanschlag aufzuklären, lernt eine Frau kennen, studiert Japanisch, fängt wieder an Klavier zu spielen und findet die Liebe. Plötzlich, so hat man den Eindruck, bekommt Thaniels Leben durch diese Taschenuhr einen ganz neuen Dreh. Dem Langweiler öffnet sich schlagartig die Welt und damit blüht auch er selbst auf – eine Art verspätete Coming of Age Geschichte. Und das ist auch schon die Quintessenz des Romans: „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ lebt von den Figuren und davon, dass der Leser sich für sie interessiert. Ja, es gibt einen vorgeschobenen Krimiplot (den Bombenanschlag vom Anfang), doch dieser wird so stiefmütterlich verfolgt, dass relativ schnell klar wird, dass dieses Buch kein Whodunit sein soll. Ob Natasha Pulleys Roman also beim Leser punktet, steht und fällt mir der Frage, ob man sich auf Thaniel und Mori einlassen will. Ich konnte diese Frage für mich mit einem klaren Ja beantworten. Ich bin Thaniels Fußspuren gern gefolgt und habe gern beobachtet, wie er aus seinem langweiligen Angestelltenleben ausbricht und plötzlich an jeder Ecke Wunder entdeckt. Ob es sich dabei nun um Moris herzigen mechanischen Oktopus handelt oder um das Erlernen einer neuen Sprache oder das Wiederentdecken einer alten Leidenschaft – Natasha Pulley ist davon überzeugt, dass an jeder Weggabelung im Leben ein Abenteuer warten kann. Man muss nur den Mut haben, den entsprechenden Weg zu gehen. Oder aber man hat einen Freund wie Mori, der mal subtil und mal offensichtlich Thaniels Schritte leitet. Darüber vergisst man dann über weite Strecken, dass Thaniel Mori eigentlich beschatten soll, um ihm den Bombenbau anzuhängen. Auch die Neugier, wer nun hinter dem Anschlag steckt, ist stark begrenzt. Viel interessanter ist es doch, die zarte Pflanze von Thaniels und Moris aufblühender Freundschaft zu beobachten und zu verfolgen, wie Pulley Realismus mit fantastischen und Steampunk-Elementen verquickt. Mein einziger Wermutstropfen ist Grace, deren Handlung in der ersten Hälfte des Romans parallel zu Thaniels Geschichte verläuft. Erst ganz langsam entwickeln sich dann Überschneidungen bis letztendlich beide Handlungsstränge zusammengeführt werden. Bis zu diesem Punkt kann man an Grace viel mögen: Sie ist wissenschaftlich interessiert, hat studiert, trägt Kurzhaarfrisur und leidet darunter, dass ihre Familie sie dringend verheiraten will. Sie ist selbstbewusst und nimmt kein Blatt vor den Mund – ein früher Blaustrumpf also. Umso weniger überzeugt die Richtung, in die sich ihre Geschichte letztendlich entwickelt. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre Grace für Pulley letztendlich nur ein Plot Device, um im letzten Akt noch einmal mit Action aufwarten zu können. Da hätte ich mir mehr erwartet. Trotzdem ist der Roman in Gänze überzeugend – die Welt ist bunt, die Figuren faszinierend. Das von Jonas Minthe gesprochene Hörbuch hat mich zwölf Stunden lang gut unterhalten. Ich bin daher für den zweiten Teil der Reihe gern wieder mit an Bord, denn Thaniel und Mori muss man einfach mögen und ich möchte ganz dringend wissen, wie es mit ihnen weitergeht!