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Posted on 6.11.2021

Kindern mehr zutrauen, gelassenere Erziehung Michaeleen Doucleffs dreijährige Tochter Rosy ist sehr süß, sieht schlafend aus wie ein kleiner Engel (welche Eltern kennen das nicht) im Wachzustand ist sie eine entsetzliche Nervensäge, mit Wutausbrüchen und Tobsuchtsanfällen, bei denen sie ihre Mutter schlägt. Da hilft der Mama auch das Chemiestudium in Berkely samt Doktortitel nicht weiter. Im Privatleben fühlt sie sich zunehmend als Versagerin. Doucleff ist in den USA bekannt als Radiomoderatorin und arbeitete für Cell, einem angesehen Wissenschaftsmagazin, daher macht sie sich auf die Suche, nach der erfolgreicheren Erziehungsstrategie nachdem sie mit der oft widersprüchlichen pädagogischen Ratgeberliteratur der westlichen Welt abgeschlossen hat. Dabei stößt sie auf interessante Tatsachen. Die Wissenschaft der Psychologie des Menschen, beschränkt sich in ihren Studien zu 96 % auf Menschen mit europäischer Abstammung und Hintergrund, obwohl diese nur 12 % der Weltbevölkerung ausmachen. „Das gesamte Gebiet der Psychologie studiert also nur einen geringen Teil der Menschheit.“ Verallgemeinernde Aussagen hinsichtlich der Menschheit werden also aus der zahlenmässig am wenigsten repräsentativen Bevölkerungsgruppe gewonnen. Damit war ich gepackt und fasziniert am Lesen, die Autorin hat aber auch ein Händchen dafür gefällig zu schreiben. Ein Forscherteam das 2010 zu dieser Thematik publizierte nannte unsere westliche Kultur in einem Akronym das für: Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic steht: WEIRD. Die Untersuchungen und Studien sind aufschlussreich und hochinteressant. Ebenso wie die Nachforschungen von Michaeleen Doucleff zur westlichen Erziehungsmethoden und den daraus resultierenden Ratgebern. Viele unserer Methoden gibt es erst seit etwa hundert Jahren, einige auch nur wenige Jahrzehnte. Zum Beispiel haben sich die Empfehlungen bezüglich Stillen und Schlafpositionen für Säuglinge rasant verändert. Zudem machten sich früher vor allem Männer um die Erziehung verdient. Zumindest wenn es an die intellektuelle Betrachtungsweise ging und es ist auffällig, dass sie sich auf diese Art bemühten, sich bevorzugt ihr Leben zu erleichtern. Wie wir Eltern alle wissen bringt so ein neu hinzugeborenes Familienmitglied nicht nur eitel Sonnenschein, sondern auch eine Menge neue Aufgaben und stellt lautstark Forderungen denen umgehend zu entsprechen ist. Damals war das den Patriarchen lästig. Man erinnere sich nur an den großartigen französischen Philosophen und Schriftsteller Voltaire, der sich diesen familiären Zumutungen geschickt entzog, indem er seine Kindern schnurstracks im Waisenhaus abgab. Nach dem theorethischen Überbau ihrer Nachforschungen begibt sich die Autorin mit uns in die praktische Welt der indigenen Erziehungsmethoden. Diese sind absolut sinnhaft, aber ein irrsinnige Geduldsprobe, besonders für uns westliche, doppelt und dreifach belastete Mütter. ZEIT und GEDULD sind gefragt, wenn es darum geht die kids in Übung Nr.1 zur Hilfsbereitschaft zu erziehen. Wer schon mal das Bad von seinem 4 jährigen Sohn gewischt bekommen hat weiß was ich meine. Sie wollen sich nützlich machen, sie lieben es zu helfen, wir müssen sie nur dabei unterstützen, aber wir könnten diese heißbegehrten Aufgaben in einem Minimum der Zeit selbst erledigen. Warum es so wichtig ist sich helfen zu lassen und wie man es ohne eigenen Nervenzusammenbruch hinkriegt steht im Buch. Ein Satz der mir sehr gefiel: „Holen. „Hol mir doch mal bitte“, ist einer der häufigsten an kleine Kinder gerichteten Sätze“ zumindest auf der salomonischen Insel Tikopia laut des Athropologen Raymond Firth. „Kleine Kinder sind ganz großartige Holer.“ Sie fallen nicht auf ein „Halt mal kurz“ rein wie beim Känguru sondern sie lieben es „Halt doch bitte“ zu hören. Die Tipps und Tricks samt abgestimmter Wortwahl der Indigenen sind beachtenswert, sie fordern Geduld und Zeit, aber die Nachhaltigkeit hat mich überzeugt. Es gibt aber auch Erziehungshilfen und Tipps die ich kritisch sehe. Beispielweise Geschichten zu erzählen um die Kinder in die gewünschte Richtung zu bringen. So hat die Autorin ein Monster im Kühlschrank, das wächst wenn es ihm zu warm wird; hier geht es darum die Kühlschranktür rechtzeitig zu schließen um keinen Strom zu verschwenden. Das und andere in diese Richtung gehende Geschichten halte ich für fragwürdig. Hätte ich das meinem Ältesten erzählt wäre der Kühlschrank immer offen gewesen um endlich das Monster zu entdecken, mein Jüngster hätte Angst vor dem Kühlschrank gehabt. Hier sollten sich Eltern äußerst genau überlegen ob sie ein solches Mittel einbeziehen wollen. Ich halte es für Lügen. Das lässt Eltern später, wenn die Kinder mehr gelernt haben ziemlich mies dastehen und verängstigte Kinder möchte niemand. Andererseits erzählen religiöse Menschen ihren Kindern auch Geschichten deren Wahrheitsgehalt sehr fragwürdig ist und auch bei uns gab es traditionell bedingt und auch weil es mit Geschenken und schöner Spannung verbunden ist den Nikolaus, den Osterhasen und das Christkind. Was mir an diesem Buch sehr gut gefiel, war die Haltung die den Erwachsenen Kindern gegenüber empfohlen wird und auch die klaren Sprachanweisungen die zu dieser Haltung gehören. Es ist entscheidend in der Erziehung, sich zuallererst selbst bewusst machen welche Werte einem wichtig sind und wie diese vermittelt werden können. Die Autorin kritisiert auch unser westliches kindzentriertes Bespaßen, das übermäßige Loben, das kontraproduktiv ist und die diskutiererei insbesondere mit kleinen Kindern. Wer sich angesprochen fühlt findet hier gute Denkanregungen. Lesens- und beachtenswert sind die Berichte von Michaeleen Doucleffs Reisen mit ihrer Tochter Rosy für alle Eltern von kleinen Kindern, besonders aber für werdende Eltern, die noch ganz am Anfang ihrer Erziehungsarbeit stehen. Hier kann „Kindern mehr zutrauen“ sehr wertvolle Hilfestellung sein um sich gegen die Übergriffigkeiten unserer Gesellschaft, die unsere Erziehung nicht selten mit Argusaugen und unerbetenen Kommentaren beggleitet. „Kindern mehr zutrauen“ zu lesen kann zu entspannten, reflektierter, emotional gefestigter Elternschaft führen und das gut begründet. Wenn dann die Schwiegermutter nölt, weil sie es nicht gutfindet wie man erzieht ist gelassen, freundliche Ablehnung kein Problem. Wissen wohin man möchte und wie man dahinkommt. Was man letztendlich innerhalb der eigenen Familie umsetzt bleibt jeder/m LeserIn selbst überlassen. Die Handreichung dazu ist gehaltvoll, gut begründet und variabel. Das Konzept von Doucleff, sie nennt es TEAM funktioniert. T eamwork – wir sind eine Familie und helfen alle zusammen E rmutigung A utonomie M inimales Eingreifen Stressfrei, gelassen und liebevoll so sehen die Erziehungsmethoden in den indigenen Kulturen aus die Doucleff besucht hat. Das Konzept samt Erläuterungen, Tipps und Übungen hat mich beeindruckt. Basiert es doch hauptsächlich auf gesundem Menschenverstand und den kann man neu lernen.

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