birgit_boellinger
Als in einer heißen New Yorker Julinacht ihre beiden Kinder aus der Wohnung verschwinden und später tot aufgefunden werden, dauert es nicht lange, und die Kellnerin Ruth Malone steht selbst als Hauptverdächtige im Mittelpunkt der Ermittlungen. Die Vorurteils-Maschinerie läuft perfekt: In den Augen der tratschsüchtigen Nachbarinnen, der nach Sensationen heischenden Presse, des moralisch-verklemmten Ermittlers kann nur sie die Täterin gewesen sein. Zu freizügig ihr Sexualleben, zu häufig wechselt sie ihre Bettgenossen. Auch Ehemann Frank, von dem sie längst getrennt lebt, streut auf seine scheinbar unbedachte Art und Weise Zweifel. In ihrem Debütroman, der unter dem Titel „Little Deaths“ 2017 im Original in London erschien, entwickelt Emma Flint das Psychogramm einer Frau, um die sich die Kreise der gesellschaftlichen Missachtung und persönlichen Rachlust durch Menschen, die sich allein von Ruths Art vor den Kopf gestoßen fühlen, immer enger drehen. Susanne Keller gelingt es in ihrer Übersetzung, die Mischung aus Tempo und Subtilität, die dieses Buch zu einem Pageturner macht, gekonnt umzusetzen. Emma Flint, Absolventin des Schreibprogramms der Faber Academy in London, weiß als solche, einen Spannungsbogen zu setzen – das liest sich für ein Debüt fast schon routiniert, was aber bei dieser Story keineswegs von Nachteil ist. Bis zuletzt dürfen die Lesenden selbst an Ruths Schuld oder Unschuld zweifeln. Für „In der Hitze eines Sommers“ nahm sich die Autorin den Fall der Amerikanerin Alice Grimmins als Inspirationsquelle, die 1965 wegen des Mordes an ihren beiden Kindern verurteilt wurde – bis zuletzt ab es Zweifel an ihrer Täterschaft, es konnten keinerlei Beweise gefunden werden, die sie oder jemand anderen in Zusammenhang mit der Entführung und dem Tod der beiden Kleinen in Zusammenhang brachten. Flint nutzt diese Vorlage, um in ihrem Roman deutlich zu machen, dass in den Augen der Öffentlichkeit die vermeintliche Täterin sich in anderer Beziehung schuldig gemacht hat. Eine Freundin, ihre einzige Freundin, bringt dies im Gespräch mit einem Reporter auf den Punkt: Gina lächelte. »Allerdings. Wissen Sie, was sie gesagt hat? Sie hat gesagt: Ich wollte das nie – heiraten und Kinder und all das. Ich wollte immer anders sein als die anderen.« Wer anders sein will als die anderen wird in einer puritanischen Gesellschaft wie den USA der 1960er (und auch bis heute noch) misstrauisch beäugt, vorverurteilt, bestraft. Zumal sich Ruth auch in der größten Krise noch weigert, sich den Konventionen anzupassen: Selbst als sie trauert, achtet sie auf ihr Äußeres, zeigt keine Tränen, verweigert angepasstes Verhalten. „In der Hitze eines Sommers“ ist weniger die Geschichte eines Kriminalfalls, vielmehr eine Erzählung über den Druck gesellschaftlicher Konventionen, dem außergewöhnliche Frauen ausgesetzt sind. Bis hin zu ihrer Anhörung im Gefängnis: „Stattdessen nimmt sie ein Papiertuch aus dem Spender, den sie zur ihr hinschieben, und drückt es an ihr tränennasses Gesicht. Sie presst es ganz fest auf den Mund, damit die Wahrheit nicht herauskommt. Die anderen sehen und hören nur ihre Tränen, und sie nicken zufrieden, weil sie nun endlich ein gebrochener Mensch ist.“ Für einen gebrochenen Menschen, für eine Mutter, die beide Kinder verloren hat, kann es kein Happy End geben. Aber Emma Flint überrascht mit einer ungewöhnlichen Lösung, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Und so endet das Buch für die Protagonistin nach ihrer Haftentlassung zumindest etwas versöhnlich, nicht ganz hoffnungslos und zeigt zudem, dass die Autorin auch ein Händchen für atmosphärische Dichte hat: „Sie streckt den Rücken noch ein wenig mehr durch. Atmet den Geruch von Benzin und Juicy Fruit ein, von warmen Donuts, der von einem Stand an der Straße hereinweht, den wohltuenden, leicht süßen Geruch der Lederjacke des Fahrers. Die Straße vor ihnen steigt an, und der Wagen fährt hinauf in das unendliche Blau des Sommerhimmels.“