Profilbild von birgit_boellinger

birgit_boellinger

Posted on 1.11.2021

„Wenn man die Klinik betritt, betritt man eine andere Welt – in der manchmal die Zeit stillsteht, so könnte man meinen. Man grenzt sich aus, um sich selbst einzugrenzen und dazuzulernen. Um mit sich selbst wieder eins zu werden und an sich zu arbeiten. Das führt oft dazu, dass man in seiner Entwicklung, zumindest der Entwicklung, die von außen sichtbar ist, stillsteht. Man lernt, das Universum anders zu betrachten und sich neu in ihm zu orientieren. Wir entfliehen der Welt, um uns in ihr neu zu definieren. Die Welt hingegen interessiert dies nicht und sie dreht sich einfach so weiter. Während wir hinter den gelben Fenstern lernen, zu fühlen, unsere Gedanken zu kontrollieren, unseren Geist neu auszurichten, lernen andere in unserem Alter Algebra, entdecken sich und ihren Körper, probieren sich aus.“ Wie für die heute 28-jährige Janine B., war und ist das Gebäude mit den gelben Fenstern für Generationen von Kindern und Jugendlichen zur vorübergehenden Heimat geworden. Zum Zufluchtsort, zum Ort, der Hoffnungen und zugleich das Gefühl der Niederlage verbindet, aber auch zu einem gefühlten Gefängnis, dem man entkommen möchte. Seit über 100 Jahren gibt es die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tübingen: Das Haus mit den gelben Fenstern kennt unzählige (Lebens-)Geschichten, die nicht nur für ein persönliches Schicksal stehen, sondern auch ein Spiegel sind für den Umgang unserer Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen. Der Förderverein Schirm e.V. gibt den Menschen hinter den Fenstern eine Stimme: „Vögel im Kopf“ ist ein aktuell erschienener Sammelband, der Texte von Patientinnen und Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendpsychiatrie vereint. Die Unmittelbarkeit der Erzählungen treffen einen beim Lesen ins Herz und machen die Ängste und die verzweifelten Gefühle, die mit einer psychischen Erkrankung einhergehen, verständlicher. „Früh aufstehen. Wiegen. 39 kg auf 172 cm. Ich bin vor kurzem 16 geworden. Aussichtslosigkeit, Schmerzen und Verzweiflung überwiegen in meinem Leben. Ich wollte mich nicht umbringen, wollte nicht sterben, nein, ich wollte nicht mehr sein und bin auch kaum noch. Wenn ich in den Spiegel sehe, ist da eine Fremde, ein Zombie, gruselig und ekelhaft. Tiefe Augenhöhlen. Eine dünne Schicht gespannte, blasse Haut über Knochen. Nicht zierlich, ein massives Skelett mit klobigen Gelenken.“ Wie Anita l., heute 37 Jahre alt, die ein knappes Jahr als Patientin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war, stellen sich viele diese Frage: „Fühle ich mich wie auf dem Weg in ein Gefängnis, in ein Krankenhaus?“ Sie schildert eindrücklich ihre inneren Widerstände, die sie in den ersten Tagen begleiten – gegen die Klinik, gegen das Personal, gegen die Mitpatienten. Aber wie viele andere Geschichten in diesem berührenden Buch ist auch ihre eine der Hoffnung: „Vögel im Kopf“ erzählt nicht zuletzt auch davon, wie viele junge Menschen in der KJP lernen, mit ihrer Krankheit zu leben, mit ihr umzugehen, neue Perspektiven erhalten und ihr Leben meistern – so Ulrike S., die Jahrzehnte später selbst als Ärztin arbeitet und eine erfolgreiche Wissenschaftlerin ist. In ihrem Nachwort betonten der Ärztliche Direktor der Klinik, Professor Tobias Renner und sein Stellvertreter Dr. Gottfried Maria Barth, ebendieses: „In der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt eine sehr wichtige Besonderheit dazu. Es kann bei uns nicht nur um Symptomreduktion oder Heilung von Krankheiten gehen. Wir haben immer mit der gesamten psychosozialen Entwicklung zu tun. Und Heilung kann nicht nur Wegnehmen von Krankheit bedeuten, sondern Wege zu öffnen für eine gesunde seelische Entwicklung. Wir wollen mit unseren Patient*innen nach vorne blicken, mit großer Kreativität immer wieder neue Wege finden, wie bestehende Belastungen bewältigt werden können.“ So ist „Vögel im Kopf“ vor allem für die Betroffenen und ihre Umwelt selbst ein wichtiges Buch, ein Buch, das Hoffnung macht und verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu holen – wie bei jeder anderen Erkrankung auch. Aber dennoch wird durch die sensible Auswahl der Geschichten durch die Herausgeber, Ärzte, Therapeuten und Mitarbeitende der Klinik, auch auf die Schattenseiten und die Schwierigkeiten, die psychische Erkrankungen und ihre Behandlung mit sich bringen, eingegangen. Die Schuldgefühle und Versagensängste, die oftmals die Eltern plagen. Die Geschwisterrivalität, die entstehen kann, wenn der Fokus auf dem erkrankten Kind liegt. Das Gefühl, an seine Grenzen zu kommen, das auch erfahrene Therapeut*innen kennen. Aber vor allem die Angst vor Stigmatisierung. Robert, Vater einer erkrankten Tochter, schreibt dazu: „Leider scheint mir, dass die »Umgangskultur« mit psychisch Kranken eine zusätzliche Hemmschwelle darstellt, ein ohnehin großes Problem zu überwinden, nämlich das Eingeständnis, krank zu sein und unter Umständen ohne fachliche Hilfe nicht mehr in eine gesündere Spur zu kommen. Interessant: Auch wenn es heute einerseits einen gefühlt offeneren Umgang mit dem Thema »psychische Erkrankung« gibt, spiegelt sich andererseits immer noch eine erschreckend aggressive Stigmatisierung im Sprachgebrauch wider: der »Mongo« und »Spasti« früherer Jugendgenerationen scheint heute dem »Psycho« gewichen zu sein. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, der wegen Zahnschmerzen den Arzt aufsuchen muss, als »voll der Kario« oder »Dento« diffamiert wird. Auch ein atemschwacher »Pneumo« ist mir noch nie untergekommen.“ Dem Wunsch der Herausgeber, dass dieses Buch zum Lesen verlockt, vor allem aber, dass es Anlass gibt, über das Thema zu reden und damit einen Teil der Stigmatisierung und Tabuisierung aufzuheben, kann man sich nur anschließen. Zudem ist dieses Lesebuch auch wunderschön gestaltet – die „Vögel im Kopf“ begleiten die einzelnen Geschichten illustrativ, zudem werden die Erzählungen bereichert durch passende Gedichte und Zitate aus der Literatur und Philosophie. Einige der Texte werden nach und nach auf der Homepage des Fördervereins Schirm e.V. veröffentlicht: https://www.voegel-im-kopf.de/

zurück nach oben