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Der Anfang: «Ich möchte fair bleiben, alle Missverständnisse aus dem Weg räumen und von vornherein kein Geheimnis daraus machen, was dieser Text ist und was er nicht ist. Ich möchte das doch nicht. Ich möchte fair bleiben, alle Missverständnisse aus dem Weg räumen und von vornherein erklären, wer ich bin und wer ich nicht bin. Ich bin nicht: die Ausgeburt der integrierten Gesellschaft. Ich bin nicht: das Mädchen, das ihr euch angucken könnt, um mitleidig zu erklären, ihr hättet euch mit den Migranten beschäftigt und es sei ja alles so dramatisch, aber auch so bewundernswert. Ich bin nicht: das Mädchen aus dem Getto. Ich bin: das Mädchen aus dem Getto. Aber das ist eine Frage der Perspektive. Es gibt echte Mädchen aus echten Gettos, die lachen mich dafür aus, dass ich dieses Wort benutze, sobald sie erfahren, in welchem Kaff und in welcher schäbigen Ecke ich groß geworden bin, und es gibt Mädchen, die hätten es keinen Tag dort ausgehalten.» Dieser Roman ist provokativ – eine unzuverlässige Erzählerin – die sich als solche hin und wieder outet – erzählt uns die Geschichte einer Mädchenfreundschaft. Denn du Leser, warst ja auch nie zuverlässig, auch nicht der deutsche Staat. Drei Mädchen im Rückblick, drei junge Frauen im Jetzt. Drei jungen Frauen, die zusammenstehen, egal was kommt. Aufgewachsen in einer Großstadt (wohl Berlin, man geht im Späti einkaufen), in einem sozialen Brennfeld. Alle drei gehen auf das Gymnasium, stammen aus Einwanderungsfamilien, die Eltern waren geflüchtet; woher ist nicht relevant. Die Erzählerin Kasih und Hani, leben noch in der Stadt. Saya, zieht durch die Welt, ist nun bei Kasih zu Besuch, da die drei zur Hochzeit einer ehemaligen Klassenkameradin eingeladen sind. «Deutschland, du hast bis heute versagt. Deutschland, du kannst ab heute versuchen, dein Versagen aufzuarbeiten. Ab heute werden wir versuchen, euch zu vertrauen.» So lautet der Tweed einer Anwältin vor den NSU- Prozessen in diesem Roman. Kadish spricht den Leser an, sie schreibt für uns alles auf, was geschehen ist, wie das war mit Saya, die alles um den NSU-Prozess aufsaugte – denn Saya ist im Gefängnis, Kasih wird sie abholen. Letztendlich ist diese Ansprache eine Anklage – eine an uns Leser. Es geht um Rassismus und der NSU-Prozess spielt dabei eine Rolle. Rassismus spielt für uns Leser persönlich keine Rolle, auch wenn wir darüber diskutieren. Wir erleben ihn selbst, nicht täglich, nicht seit Kindertagen. Wie fühlt es sich an, eine Migrantin zu sein? Nebenbei, hier geht es niemals um die Kopftuchfrage! Wir wissen auch nicht, zu welcher Religionsgruppe diese Mädchen gehören – denn darum geht es nicht. In diesem Buch hagelt es Ohrfeigen für den Lesenden. Es steckt eine Menge Wut darin – besonders in Saya. Und manchmal schämt man sich als Leser, nickt mit Kopf, möchte sich hinter dem Buchdeckel verstecken. Ganz normaler Rassismus im Alter, wie wir ihn täglich erleben. Muster! «Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.» Die Autorin verunsichert die Lesenden, neckt uns, springt zwischen Realität und Fiktion, macht sich lustig, wenn sie uns erzählt, dass sie uns gerade mal wieder eine kleine Lüge eingeschoben hatte, legt falschen Spuren, aus Misstrauen und Verdacht. Vergangenheit und Gegenwart. Es geht um eine Brandstiftung. Der Text ist die Brandschrift! Shida Bazyar zeigt in aller Konsequenz, was es heißt, aufgrund der eigenen Herkunft immer und überall infrage gestellt zu werden, aber auch, wie sich Gewalt, Hetze und Ignoranz mit Solidarität begegnen lässt. Der Text ist hefig, spuckt alles heraus, was zu sagen ist über Rassismus und Sexismus – nicht das, was wir gern hören würden. Manch einer mag meinen, Shida Bazyar schießt manchmal über das Ziel hinaus. Das muss sie. Nur durch diese Brüskierung bewegt sich etwas in den Köpfen der Menschen. Dies ist die Geschichte einer Freundschaft von drei Mädchen, drei Jugendlichen, drei Frauen, Lebensgeschichten, wie sie überall zu finden sind, ganz real – auch wenn es manchem Leser wehtun sollte, was er hier vorfindet. Kasih, die trotz Studium keinen passenden Job findet, Saya, die sich selbst zerfleischt, gegen die rechte Gefahr und Rassismus kämpfend und Hani, völlig angepasst, die als unterbezahlte Bürokraft ausgenutzt in einem alternativen Start-up, einer Agentur für das Tierwohl, arbeitet – drei unterschiedliche Charaktere, die zusammenhalten. Ein Roman, den man unbedingt lesen sollte! Shida Bazyar, geboren 1988 in Hermeskeil, studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim und war, neben dem Schreiben, viele Jahre in der Jugendbildungsarbeit tätig. Ihr Debütroman »Nachts ist es leise in Teheran« erschien 2016 und wurde u.a. mit dem Bloggerpreis für Literatur, dem Ulla-Hahn-Autorenpreis und dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Dieser Roman ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.