Dreamworx
"Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen." (Sigmund Freud) 1957 England. Die Journalistin Jean Swinney ist 39 Jahre alt und arbeitet für ein kleines Lokaltagesblatt im Einzugsbereich von London, wo sie für die Kolumne rund um Haushalts- und Gartentipps verantwortlich zeichnet. Eines Tages meldet sich mit Gretchen Tilbury eine Frau bei ihr, die eine unglaubliche Geschichte zu erzählen weiß, denn sie behauptet, ihre Tochter wäre das Resultat einer unbefleckten Empfängnis. Jean wittert ihrer Chance, endlich als Journalistin durchzustarten und aus der Kolumnenecke ins Rampenlicht zu treten. Sie trifft sich mit Gretchen und deren Tochter Margaret, recherchiert alles genau und muss sich am Ende eingestehen, dass Gretchens Geschichte wohl der Wahrheit entspricht. Und während sie den Dingen weiterhin auf den Grund geht und immer mehr Quellen findet, fühlt sie sich allen Mitgliedern der Familie Tilbury immer näher, was weitreichende Folgen für alle Beteiligten hat… Clare Chambers hat mit „Kleine Freuden“ einen zum Teil auf tatsächlichen Begebenheiten basierenden Roman vorgelegt, der von der ersten Seite an zu fesseln weiß. Der flüssige, empathische und oftmals auch humorige Erzählstil nimmt den Leser mit auf Zeitreise in die späten 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, wo er neben Jean auch die Familie Tilbury aufs Genaueste kennenlernen darf. Auf der einen Seite erlebt man Jean, die mit ihrer alten Mutter zusammenlebt, ein recht einsames Dasein fristet und nur ihr Job für die tägliche Abwechslung sorgt. Zum anderen trifft man auf die unkapriziöse und pragmatische Gretchen, deren allerliebste Tochter Margaret sowie dem in sich ruhenden Ehemann Howard. Hat Jean am Anfang der Artikelrecherche um Gretchen noch an einen Durchbruch für ihre Karriere gedacht, so nimmt sie doch die Familie immer mehr gefangen, vor allem Howard hat es ihr angetan, der ihr Herz bald im Sturm erobert hat. Immer mehr gerät Jean in den Strudel der Tilburys, fühlt sich bald schon wie ein festes Familienmitglied, was allerdings auch zu einigen Gewissenskonflikten führt, besonders Gretchen gegenüber. Die Spuren werden immer mehr verwischt. Der Autorin ist es wunderbar gelungen, die damalige Zeit wieder heraufzubeschwören, wo es noch keine DNA-Tests gab und Gentests noch als Wunderwerk galten. Die damals angeordneten Untersuchungen setzen unterschwellig die Spannung, die sich innerhalb der Familie nebst Jean ebenfalls entwickelt aufgrund der zwischenmenschlichen Beziehungen. Altbekannte Tugenden wie Verantwortungsgefühl, Pflichtbewusstsein, innige Freundschaft, aber auch das Gefühl von verbotenem Verlangen setzt Chambers mit ihren Protagonisten bravurös in Szene. Die Charaktere wurden facettenreich und lebendig ausgeformt, so dass ihre realistischen menschlichen Eigenheiten den Leser voll und ganz für sich einnehmen und er sich immer wieder die Frage stellt, wer sich mehr in das Herz einschleicht. Jean ist eine Frau in den mittleren Jahren, deren Chance auf Familie und Kinder bereits gegen Null tendiert. Neben ihrem Job hat sie nur ihre Mutter, die sich von hinten bis vorn bedienen lässt und dabei ihre Krankheit vorschiebt. Die Tilburys vertreiben schleichend Jeans Einsamkeit, auf einmal ist sie Teil einer Familie, wie sie sich selbst eine gewünscht hat. Gretchen ist eine pragmatische und freundliche Frau, Howard der warmherzige, zurückhaltende und liebevolle Ehemann, Margaret die hinreißende Tochter. „Kleine Freuden“ ist zum einen eine wunderbare Gesellschaftsstudie, wo Gewissensbisse und Moralvorstellungen sich die Hand geben. Aber es ist auch eine tiefgründige und warmherzige Geschichte voller versteckter Hoffnungen und unerfüllter Träume aus einer vergangenen Zeit. Absolute Leseempfehlung!!