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gwyn

Posted on 30.10.2021

«Manchmal, wenn sie in der Stadt spazieren gehen und ihr Spiegelbild zufällig in einem Schaufenster aufblitzt, zuckt er regelrecht zusammen: Wie sehen die denn aus! Provinzler, die am Wochenende aus den umliegenden Speckgürteln gekrochen kommen, Eltern, deren Kinder gerade das Haus verlassen haben und die nun endlich wieder tun und lassen können, was sie wollen, aber verlernt haben, wie das geht: staunende, ratlose Witzwesen, die durch die aufgeladene Nacht irren. Je aufgeladener die Nacht, desto stärker entladen sich die Witzwesen.» Eine katastrophale Liebesgeschichte – eine Satire wie man sie von Heinz Strunk kennt. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021, mit Recht. Ein ehemaliger Musiker, Mitte vierzig, der nun Hörbücher in seinem Studio produziert, ist ja eigentlich gar nicht so unzufrieden mit seinem Leben. Er hat ein geregeltes Einkommen, eine Freundin Julia ist Lehrerin – doch die geht ihm neuerdings auf die Nerven. Zu dick, der Gang zu watschlig, zum Sex keine Lust – die Luft ist raus, er empfindet immer mehr Ekel vor ihr. Und sie empfiehlt ihm in seiner Melancholie doch mal zum «Erbsendoktor auf die Rüttelbank zu gehen». Da lernt er Vanessa kennen, Schauspielerin, jung, strahlend schön, blond, kornblumenblaue Augen, magersüchtig, «ein echter Hingucker». Er fühlt sich ziemlich gebauchpinselt, als sie sich für ihn interessiert. Auf der Stelle verliebt hat er nun endlich einen Grund, mit seiner langjährigen Beziehung zu brechen. Nur, hat er jetzt eine Beziehung mit Vanessa? Sie lässt ihn ständig auflaufen, hält alles in der Schwebe. Und in seinem Alter will man nicht gierig sein – Zeit lassen, abwarten, dem Mädel Raum geben; sie bloß nicht sofort wieder verlieren, so eine findet an der nächsten Straßenecke einen Neuen. Eine toxische Beziehung, das ist sofort klar. Einer gibt, einer nimmt. Er wartet, manchmal hält sie die Verabredung gar nicht ein, lässt länger nicht von sich hören; und er zahlt; immer. «Offiziell sind sie nach wie vor kein Paar. Oder doch? Wie sie das wohl sieht? Einerseits fürchtet er ihre Antwort, den abschätzigen Blick, ‹Wie bitte, Beziehung? Du und ich?›, andererseits hat er das Gefühl, dass es ratsam bleibt, diese letzte Verteidigungslinie zu halten. Dabei ist es für einen geordneten Rückzug ohnehin zu spät. Lieber noch ein wenig warten, dann ergibt es sich von selbst, dann ergibt sich irgendwas. Bis dahin tut er gut daran, sie mit seinen kindischen Gedanken zu verschonen. Bis dahin tut er gut daran, ihr zu verschweigen, wie sehr er sie begehrt, unaufhörlich, dass ihre Stimme, ihr Körper, ihr Hintern, ihre Zunge, ihr Geruch, ihre Bewegungen, Fesseln, Knie, Füße, einfach alles, ihn wahnsinnig machen.» Männer in den Wechseljahren, eine Peinlichkeit schlechthin, eine Katastrophe. Dieser namenlose Icherzähler ist Gund seines Herzens stockkonservativ und ein Prolet – obwohl er genau das Gegenteil von sich sieht – und er blickt gern auf andere herab, alles um ihn herum altert oder müffelt, nervt. Er versucht, dem zu entkommen, was er selbst darstellt, sich nicht eingestehen will und greift nach der Jugend, dem durchgeknallten Wesen. Strunk war schon immer ein genialer Selbstentblößer – man erinnere an «Fleisch ist mein Gemüse». Er tritt von einem Fettnäpfchen ins nächste, sagt und macht ständig das Falsche. Slapstick, Situationskomik. Er ist auf der Suche ... bloß nach was? Nach dem Jungbrunnen, nach dem Aufpolieren seines Egos, nach allem was er bisher verpasst zu meinen hat – irgendwie ist er sich ja selbst peinlich. Die Beziehung geht rauf und runter, die Stimmungsschwankungen von Vanessa ziehen ihn in ein tiefes Loch. Der Icherzähler ist eindimensional. Das ist auch in Ordnung, denn er zeigt sich als selbstmitleidiger Kerl, in seiner Midlifecrisis sich zerfleischend; das Glück, das im Chaos versinkt. Eine feine Gesellschaftssatire. Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Hamburg geboren. Seit seinem ersten Roman «Fleisch ist mein Gemüse» hat er elf weitere Bücher veröffentlicht. «Der goldene Handschuh» stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt.

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