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gwyn

Posted on 30.10.2021

«Der erste Satz: «Aber er wollte, dass sie ihre Hände wegnahm, dass sie aufhörte, ihn anzufassen, dass sie beiseite ging, verschwand, er versuchte, ihr zu sagen, dass sie abhauen, nach Hause gehen sollte, aber sein Mund war voll Blut, und sie weigerte sich, ihn loszulassen.» Es ist ja alles Geschmackssache. Ich mag komprimierte Texte. Doch wenn alles so komprimiert ist, dass der Lesende hochkonzentriert bleiben muss, um zu folgen – und mache Zusammenhänge ein Rätsel sind, dann war das für meinen Geschmack zu viel. Letztendlich hat mir der Roman erst im letzten Drittel Spaß gemacht. Die Charaktere sind fein aufgestellt und die Handlung ist eigentlich gut konstruiert, doch leider gibt es eine Menge Nebenstränge in dem ohnehin dünnen Buch, die nicht aufgelöst werden, Literatur als Essenz in Sätzen und Absätzen. Das muss man mögen. «Die Luft roch gut. Der Sand war noch feucht. Er nahm seine Schuhe in die Hand und spazierte an der Küste entlang. Es war frisch, Es war frisch, die Sonne wärmte noch nicht wirklich, sie glänzte im Tau auf den Binsen, die in Büschel wuchsen, auf ihren Strahlen trug sie die Möwen durch einen schweren, aber fernen, unbeweglichen Himmel, von stillem Licht durchbrochen.» Eine Stadt am Meer. Marc wohnt derzeit bei seiner zwanzig Jahre älteren Schwägerin Diana, die immer noch sehr attraktiv ist. Die Zahnärztin hatte ihren Mann, Patrick, kürzlich bei einem Attentat verloren, bei dem sie selbst schwer verletzt wurde; sie ist fragil, hat bereits mehrere Suizide hinter sich. Sie hat eine Liaison mit Serge, dem Sohn des Bürgermeisters, der regelmäßig seine Frau betrügt. Der spielsüchtige Marc liebt Diana, wacht über sie; und als er beim Morgenspaziergang am Strand drei Päckchen findet, die mit Kokain gefüllt sind, scheint das die Lösung seiner Probleme zu sein. Er glaubt, es wäre die Gelegenheit, seine Spielschulden zu bezahlen. Dianas Bruder, Joël, ist so etwas wie sein väterlicher Freund, sie bauen zusammen Boote – allerdings spricht Diana seit Jahrzehnten nicht mehr mit ihm – soll den Verkauf in die Wege leiten. «Sie saßen zusammen und sprachen über Verrat, Freundschaft, Rache, Verlangen.» Alle Figuren in diesem Roman sind fragil, kämpfen mit ihren Dämonen, manche treiben Erlebnisse in den Wahnsinn. Sex, Alkohol und Drogen betäuben – ebenso Aggressionen – und man ahnt, irgendwann wird diese Story eskalieren. Jeder dieser Ruchlosen überschreitet Grenzen, muss sie überschreiten und letztendlich geht es in diesem Roman darum, wie den Protagonisten das Leben entgleitet, sie an den Rand des Wahns getrieben werden. Das ist psychologisch wunderbar aufgebaut, gibt einen Sinn, ohne Frage. Ich mag Leerstellen. Philippe Djian arbeitet mit Ellipsen. Aber hier gab es mir zu viele. Der Leser wird nie erfahren, unter welchen Umständen Dianas Ehemann Patrick ermordet wurde – war er ein Krimineller? Kartelle, Probleme - wer mit wem, keine Ahnung. Joël soll den Stoff verkaufen – wie tief steckt er drin in solchen Geschäften und welche Beziehungen pflegte er mit Patrick? Man sagt, einer wäre vielleicht ein verdeckter Ermittler. Die Fantasie des Lesers ist gefordert. «Marc, sag mir nicht, dass da nichts ist. Da ist nicht nichts, nie und nimmer. Ja, aber das klärt sich. Joël kümmert sich darum. Ach so, dann ist es ja gut, wenn Joël sich darum kümmert, sind wir gerettet. Er lachte. Auf dieses Eis wollte er sich nicht begeben. Er schenkte sich Wein nach.» Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen den Protagonisten: Marc und Diana (ohne Beziehung), Joël und Brigitte, die in Scheidung leben und Serge mit Frau Charlotte und Denise, die nicht verheiratet ist; natürlich die Beziehungen der Männer untereinander. Ein Noir-Roman, französische Literatur, ein Thriller, ein Psychodrama, so würde ich es zusammenfassen. Philippe Djian setzt seine Protagonisten in unübersichtliche Situationen, in denen es um Liebe, Freundschaft, Verrat und Gewalt geht. Der tote Patrick ist hier eine wichtige Figur! Er ist immer präsent in seiner Abwesenheit! Denn genau das Fehlen von Patrick macht die Figuren fragil, lässt sie erschüttern. Die Protagonisten sind weder gut noch böse – sie besitzen zwei Gesichter, Grauzonen, das macht gute Literatur aus. So weit so gut. Trotz all dieser Kunst liest sich das alles für mich zu ungegoren – zu viele Ellipsen, Leerstellen, Zeitsprünge, Szenenwechsel, zu viel Ungesagtes – literarisch zu fragmentiert für mich. Alles Geschmackssache. Philippe Djian, geboren 1949 in Paris, ist viel herumgekommen. Er lebte in New York, Florenz, Bordeaux und Lausanne und wohnt heute in Biarritz und Paris. Auf einer Autobahnmautstelle, bei einem seiner Gelegenheitsjobs, tippte Philippe Djian sein erstes Manuskript. Sein dritter Roman, «Betty Blue» wurde zum Kultbuch. «Oh …» erhielt 2012 den Prix Interallié und wurde mit Isabelle Huppert unter dem Titel «Elle» verfilmt.

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