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gwyn

Posted on 29.10.2021

Im Jahr 2044 ist die Justiz zum Showbusiness verkommen. Die rechtsradikale «Zero Tolerance Partei» ist am Ruder, die auch gleichzeitig harten Klimaschutz, vorschreibt, Fleisch zu essen, ist verboten. Wichtige Strafprozesse sind nun zu Streaming-Veranstaltungen mit Saalpublikum und TV-Zuschauern umfunktioniert worden, bei der diese am Ende per App entschieden, ob der Angeklagte freigesprochen wird oder zur Todesstrafe verurteilt wird: Das Volk entscheidet, sie sind der Richter, denn den gibt es nicht mehr, die Verfahren werden von Showmaster*innen moderiert. Recht und Rechtsempfinden sind bekanntlich zweierlei Stiefel. Wer juristisch ausgebildet ist oder Ferdinand von Schirach und ähnliche Autoren liest, die sich mit Rechtsprechung und Rechtsempfinden innerhalb des Strafrechts auseinandersetzen, weiß, wie schwierig der Grad ist, auf dem man wandert. Anklage und Verteidigung – beweisen, widerlegen, in Frage stellen, Verständnis schaffen, das ist eine Seite. Wer die Realität kennt, der weiß, der schlechteste Beweis ist eine Zeugenaussage: 10 Zeugen, 10 verschiedene Beobachtungen des Geschehens – menschliche Wahrnehmung ist nicht vorurteilsfrei, das Gedächtnis ist nicht so gut, wie manch einer glauben mag. Dazu kommt eine andere Sache im Strafprozess, wir kennen dies real oder aus Film und Literatur: Strafverteidiger, bzw. Staatsanwälte versuchen, Zeugen zu diskreditieren. Was ist ihre Intension auszusagen, haben sie einen guten Leumund, sind sie glaubhaft (der berühmte Backgroundcheck)? In Vergewaltigungsprozessen müssen Opfer oft durch die Hölle gehen, sehr stabil sein, da sie damit rechnen müssen, von der Verteidigung persönlich auseinandergenommen zu werden. Lorenz van Bergen ist in diesem Roman der Beste in seinem Fach, ein charismatischer Narzisst, ein Selbstdarsteller und Schauspieler ohne Gewissen. Für ihn zählen Geld und Ruhm – die Ehre ist ihm gleich am Anfang seiner Laufbahn abhandengekommen. Er ist reich und mächtig, sonnt sich im Scheinwerferlicht – ist sich für kein mieses Diskreditieren von Zeugen zu schade. Zu Beginn des Romans lernt der Leser ihn und seine Prozesse, seine Verteidigungsstrategien kennen, die die Zuschauer manipulieren, auf Emotion bauen. Ich nahm an, dass dieses Buch sich das Thema Strafverteidigung vornimmt – die dreckige Seite. Recht und emotionales Empfinden im Gegensatz zu präsentieren; wenn der Verstand manipuliert wird. Die Schauspielkunst der Strafverteidiger, Selbstdarstellung und Medienverliebtheit - der Typ, der gern Promis verteidigt. Doch darum geht es gar nicht. Im Gegenteil – das Unglaubliche, das hier präsentiert wird, scheint den Autor zu spiegeln, wenn man Presseartikel über ihn aufruft. Die Muslime leben nun selbstbestimmt in Ghettos, zu denen der deutsche Staat keinen Zutritt mehr hat; das Größte befindet sich in Berlin. Der Anführer von Neu-Essen heißt Abdelkarim Al-Zahidi. In diese Enklaven kommt eigentlich niemand hinein oder heraus – nur mit schriftlicher Erlaubnis des Clanführers, alles ist per elektronischem Zaun abgesichert, es gibt streng bewachte Eingänge. Nun wurde der Innenminister entführt und bisher hat sich niemand dessen bekannt – weder die Linken, noch die Muslime. Der sogenannte Knochenbrecher, die rechte Hand von Al-Zahidi ist des Mordes angeklagt. Lorenz van Bergen wird nach einer Show nach «Al Amal», Neu-Essen, gebracht (nicht gebeten – sondern befehligt!), und der Clanführer bittet ihn, den Freund zu verteidigen. Van Bergen wird durch die Stadt geführt und er ist fasziniert! Lebendiges Leben mit Marktständen, mit leckerem Essen, die Düfte verführen ihn; gibt es Fleisch ... Leider beschreibt uns der Autor nicht, wie es im utopischen Deutschland aussieht, was man dort so isst, wie sich das Straßenleben gestaltet – van Bergen gefällt die andere Seite besser; man fragt sich warum? Anfangs ist der Starverteidiger unsicher, doch dann sagte er zu – schon wegen des Ruhms. Ganz schnell wird Abdelkarim Al-Zahidi ein enger Freund des Juristen – so schnell, dass der Leser kaum mitkommt. Ansonsten scheint van Bergen keine Freunde zu haben – Frau und Tochter sind nett, fleißig, hübsch, aber letztendlich sind sie ihm egal; ein Narzisst halt. Al-Zahidi zieht den intelligenten Anwalt wie an einem Nasenring durch die Ereignisse, schwört dies und das und immer wieder klappt das Lügenhaus zusammen. Van Bergen ist völlig vernarrt in den Clanchef, entschuldigt alles, akzeptiert die Ausreden und folgt ihm wie ein Hündchen. Ich hatte erwartet, dass irgendwann die Zauberfee vor ihm steht und sagt: Aufwachen! Der Punkt, an dem der Protagonist etwas versteht, wo er vom «want» zum «need» kommt, tritt nicht ein. Ohrfeigenszenen hat es genug gegeben. Wo ist der Midpoint, wo der dritte Akt? Dramaturgisch ist das mies entwickelt. Bis zur Mitte fand ich die Dystopie spannend, doch dann hat es mich irgendwann genervt: Das Vergöttern der ach so missachteten Clans, die ja so lieb sind ... gut sie verkaufen Drogen, machen Überfälle, schmutzige Umweltgeschäfte – aber es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig, weil Muslime keinen ordentlichen Jobs erhalten. Der schlaue, narzisstische Strafverteidiger, der sich als unprofessionell und als naiver Dämlack entpuppt und endlich ein Familiengefühl entwickelt; nur nicht für die eigene. Habe ich da irgendwas nicht mitbekommen bei der Entwicklung des Protagonisten? Ich wartete auf eine Wendung, eine Message, eine Entwicklung der Figuren – gut, ein Narzisst kann sich nicht entwickeln. Aber bei solch einem Buch muss der Autor doch irgendeine Aussage zum Ziel gehabt haben. Ich habe sie nicht gefunden. Das Ende konnte mich nicht überzeugen – im Gegenteil: Ich habe die Message nicht verstanden. Klar, einigen Libanesen hat man damals keine Staatsbürgerschaft in Deutschland zuerkannt, sie durften kein Asyl stellen, sie waren rechtlos, entweder geduldet oder sie sollten ausreisen (was sie nicht gemacht haben) – keine legalen Jobs, keine Sozialhilfe, also Kriminalität. Aber es gibt eine Menge anderer Clans, deren Mitglieder ordentliche Pässe besitzen! Die Aussage, Muslime hätten keine Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe in Deutschland und werden deshalb vom Staat in die Kriminalität gedrängt, ist der größte Blödsinn, den ich jemals gehört habe. Und ich habe mein Leben lang als Sozialpädagogin mit Migranten gearbeitet, mit Muslimen. Falls es die Aussage des Thrillers sein sollte, Muslime werden in Deutschland ausgegrenzt, so ist das grober Unfug – das mag für die ein oder andere rechte Kartoffel gelten, aber nicht für die Masse der Bürger; und einiges ist gesellschaftlich sicher noch verbesserungswürdig auf beiden Seiten. Die Clan-Leute sind kriminell und wollten niemals integriert werden; das sind die Fakten. «Hundert Jahre nach dem Holocaust hat Deutschland seinen neuen Juden gefunden.» – was für eine Schwachsinnsaussage! «Zahlreiche Ereignisse beruhen auf wahren Erlebnissen aus seiner Laufbahn als Strafverteidiger», da frage ich lieber nicht welche ... Burkhard Benecken, der Autor und Strafverteidiger, hat die deutsche Clan-Szene verteidigt: Clan-Boss Issa Rammo, Mitgliedern der Familien El-Zein, Miri, Omeirat und Mahmoud. Da fragt man sich, ob die Clans gern eine solche Enklave hätten und ob der Autor selbst der Meinung ist, dass wir die Clans ein wenig mehr streicheln sollen, weil es doch eigentlich kuschlige Jungs sind. Beschreibt sich der Autor hier selbst als Lorenz van Bergen? Na dann mal gute Nacht! Ich bin völlig unbedarft an das Buch herangegangen, der Autor war mir unbekannt. Er wird wohl in TV-Talks eingeladen, die ich nicht anschaue, scheint recht medienorientiert zu sein. Zitat Spiegel zu Benecken: «Vor einiger Zeit schrieb er bei Facebook von seinem Vergnügen daran, die Aussagen von Zeugen so zu filetieren, dass nur noch ein Fragezeichen bleibt.» Man kann den Stoff flott lesen – keine Frage – nur irgendwann stand ich wie gesagt vor dem Punkt: Was will mir der Autor sagen? Zumindest bin ich mir ganz sicher, dass wir in der Zukunft weder Kaperveranstaltungen haben werden, die über die Schuldigkeit von Angeklagten richten werden, sie in den Tod schicken oder nicht, noch wird es einen Staat im Staat geben. Auch wenn das manche Clans gern hätten. Burkhard Benecken, 1975 geboren, ist seit 15 Jahren als Strafverteidiger tätig und hat das «Who’s who» der deutschen Clan-Szene vertreten, von Clan-Boss Issa Rammo bis zu Mitgliedern der Familien El-Zein, Miri, Omeirat und Mahmoud. Öffentlich vertritt er die Position, dass die Kriminalisierung ganzer Familien zu einer weiteren Zuspitzung der Clan-Problematik führt. Er ist als Experte ein oft geladener Gast in TV- und Radiotalks.

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