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Der Anfang: «Ohne warnenden Donner prasselte der Regen auf das Fest nieder, keiner der Gäste hatte gesehen, wie sich über den walddunklen Hügeln die Wolken zusammenballten. Als das Wasser über uns hereinfiel, saßen wir an dem langen Tisch auf dem Rasen.» Dies ist der zweite Teil zum Roman «Arminuta» – die Geschichte von dem Mädchen, das als Baby von einer armen Familie an eine reiche «ausgeliehen» wird, nicht ahnt, wer ihre wahre Eltern sind, beste Schulen besucht, gute Kleidung trägt, immer genug Essen auf dem Tisch hat. Mit 13 setzen die Zieheltern sie einfach wieder «zu Hause» ab, in ihrer Familie, die in bitterer Armut lebt. Man muss sich zusammenraufen. Mit ihrer Schwester Adriana hat die «Arminuta» das beste Verhältnis. Ein Roman, der ein historisches Thema aufnahm, das «Kinder verleihen» der armen Menschen in den 50-ern und 60-ern. Ein großartiger Roman, tiefschichtig. Ich war gespannt, wie die Schwestern sich weiterentwickelt haben. «Auf dem Autositz sank sie zusammen, und die Treppe hinauf musste ich sie stützen. Mein Vater irrte sie sich, ihre letzten Kräfte nutzte sie für den Friedhof.» Die Mutter ist bereits verstorben. Donatella Di Pietrantonio erzählt die Familiengeschichte von Arminuta weiter, in Rückerinnerungen setzt sich dieses Mal die Entwicklung bruchstückhaft zusammen. Wer den ersten Teil nicht kennt, mag diesen Roman mögen, die Vorgeschichte muss man nicht kennen. Aber ein zweiter Teil, der sich an einen großartigen ersten Teil anreiht, muss sich messen lassen. Doch der hier liegt erzählerisch weit im Schatten. Das Leben der beiden Schwestern könnte unterschiedlicher nicht sein: Adriana lebt prekär in Borgo Sud, dem heruntergekommenen Hafenviertel von Pescara, ihre Schwester lehrt an der Universität in Grenoble. Eines Tages erhält sie einen Anruf, dass Adriana, nach einem Sturz vom Balkon im Coma auf der Intensivstation liegt. Sie reist nach Pescara. Die Rückkehr löst bei der nach Frankreich ausgewanderten Hochschuldozentin eine Flut von Erinnerungen aus, lässt in ihr Momente ihres Lebens wieder aufleben: die Nacht, in der Adriana mit einem Baby auf dem Arm vor ihrer Tür stand, an deren Liebe zum jungen Fischer Rafael, für den sie die Schule geschwänzte. An die eigene Verlobungsfeier mit Piero – an die dann gescheiterte Ehe, weil Piero später feststellt, dass er Männer liebt. Erinnerungen an die an Krebs verstorbene Mutter, die so unberechenbar war wie ihre Zuneigung gegenüber den Kindern, den egoistischen, holzigen Vater. In Borgo Sud scheinen alle zu wissen, dass Adriana keinen Unfall hatte, aber was wirklich geschehen ist, darüber schweigen sie. «Woran meine Mutter gestorben ist, weiß ich immer noch nicht genau. An Krebs, auch an vielem anderen. Eine Summe von Null.Null Wert schrieb sie dem Weiterleben zu, null ihrer Nützlichkeit.» Donatella Di Pietrantonio schreibt gut, es gibt eindringliche Szenen. Ein Familienroman, der an der Adriaküste spielt, der Geruch von Salz und Fisch, das Brutzeln von Knoblauch in der Pfanne von gebratenem Fisch zieht in die Nase, der Lärm im Armenviertel ist hörbar, Atmosphäre ist eindeutig zu spüren. Auch Grenoble ist gut beschrieben, kann als eine Art bourgeoiser Gegensatz zu Pescara gesehen werden. Die reiche und die arme Schwester, die gebildete und die ungebildete. Bei den Figuren kommen Zweifel auf. Arminuta ist eine Figur, die sich durch ihre innere Stärke im ersten Band auszeichnet, die eine schwere Traumatisierung durch Selbstvertrauen und Enthusiasmus überwinden kann, das neue Leben anpackt, sich durchsetzt. In dem Teil sind alle Protagonisten lebendig und gut gezeichnet. In diesem zweiten Band zeigt sich Arminuta als zerbrechliche, unterwürfige Person, die sich bestimmen lässt, die alles erträgt. Das passt hinten und vorn nicht zusammen. Die Schwester Adriana kommt aufdringlich, egoistisch und nervig daher, fußstampfend, uneinsichtig – gleichzeitig hängt sie an ihrer Jugendliebe. Der Strang der Haupterzählung kommt nicht vorwärts, da er ständig unterbrochen wird mit unwichtigen Erinnerungen, anstatt die Spannung des Lesers hochzuhalten. «Im letzten Winter habe ich jemanden getroffen.› Er sprach in kurzen Sätzen, jedes Wort fiel aufs Brett, blank und senkrecht wie ein Messer.» Die Schwestern müssen leiden. Die Arminuta, weil sie erträgt, wie ihre Ehe zerbricht, als ihr Mann feststellt, dass er homosexuell ist, immer wieder Affären hat, bis er für einen Mann die Ehe beendet. Die taffe, rebellische Adriana, die alles selbst in die Hand nimmt und sich rein gar nichts gefallen lässt, erlebt Gewalt in der Beziehung, aus der sie sich nicht lösen kann. Ein gewalttätiger Vater, eine Mutter, die keine Liebe geben kann – zwei Schwestern die Liebe im Erwachsenenleben suchen, doch wieder enttäuscht werden. Eine Geschichte, wie es sie tausendfach gibt; hier fehlt das Alleinstellungsmerkmal und obendrauf die spannende Story. Das Ende ist abrupt. Kleine Teilgeschichten aus dem Familiendrama, aber die Seele der Schwestern konnte die Autorin leider nicht einfangen. Figuren, die von Teil eins zu zwei nicht nachvollziehbar sind, die oberflächlich gezeichnet sind, denen die Tiefe und die erzählerische Kraft von Teil eins fehlt. Ein Piero, der als Problemehmann eingeflochten wird, dem auch wieder die Tiefe fehlt, der irgendwie verloren herumbaumelt. Diesem zweiten Teil fehlt eben alles, was der erste Teil an Stärke vorzuweisen hatte. Es ist durchschnittlicher Roman, eine unterhaltsame Geschichte. Aber eben ein Schatten von Teil eins. Donatella Di Pietrantonio wurde in den Abruzzen geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara. Ihre Romane Meine Mutter ist ein Fluss (2013) und Bella mia (2015) wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit Arminuta (2018) ist ihr der internationale Durchbruch gelungen.