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Sie stehen gut sichtbar in meinem Bücherregal: drei umfangreiche Romane von FRANZEN („Die Korrekturen“ von 2001, „Die 27. Stadt“ von 2003, „Freiheit“ von 2010). Sie zeugen von einem erzählerischen Schwergewicht. Die anstehende Veröffentlichung von „Crossroads“ (ein genialer Song der Supergroup „Cream“) wurde erwartungsgemäß als literarisches Großereignis bewertet; die ersten Kritiker zeigten sich beeindruckt. Der Roman (offenbar der erste Band einer Trilogie) wird als zeitgeschichtlich relevante Spiegelung einer Epoche des Umbruchs angesehen. FRANZEN at his best? Die Erzählung taucht mit FRANZEN-typischer Gründlichkeit in ein überschaubares Biotop ein. Er seziert die emotionalen und psychologischen Untiefen der Mitglieder einer fünfköpfigen Familie: Der Vater, ein sozial-engagierter Pfarrer, tut sich schwer, mit dem Leiter der Jugendgruppe (mit dem Namen „Crossroads“) mitzuhalten. Privat verstrickt er sich in einen nur schwer lösbaren Konflikt zwischen moralisch-religiösen Eheverpflichtungen und seiner Schwärmerei für eine jüngere Frau aus der Gemeinde. Das kann ja irgendwie nur schief gehen… Die Mutter hat eine (geheime) belastende Vergangenheit, die sie letztlich für die Bewältigung der Ehekrise zu nutzen versucht. Ihre extreme Loyalität gegenüber dem jüngsten Sohn wird bis zum Äußersten beansprucht. Die religiöse Basis hilft auch beim Kampf um die Ehe. Der älteste Sohn hat sich scheinbar erfolgreich verselbstständigt, wird dann durch die Irrungen und Wirrungen des Vietnam-Krieges eingeholt und gerät ebenfalls in eine existenzielle Krise. Er hat sich am stärksten aus dem religiösen Milieu – und damit auch von der familiären Einbettung – entfernt. Die Tochter versucht auf schlängelnden Pfaden ihren Glauben mit dem Zeitgeist der Hippie-Generation zu verbinden. Sie leidet am stärksten unter den Belastungen, die sich auf der Geschwister-Ebene abspielen. Der jüngste Sohn gerät sehr früh in eine Drogenkarriere, aus der es offenbar nicht mehr so viele Auswege gibt. Die Belastungen für die Familie erreicht ungeahnte Ausmaße. Die hier nur kurz skizzierten persönlichen Themen der Figuren ziehen sich über Hunderte von Seiten, begleitet von zahlreichen Konflikten und Ambivalenzen. Das kann man mehr oder weniger interessant finden. Doch was sagt uns dieser Roman über das Amerika der frühen 70-iger Jahre? Die Crossroads-Jugendgruppe soll offensichtlich einen gesellschaftlichen Umbruch symbolisieren. Anstelle von formalen Rollen und steifen Umgangsfloskeln entsteht eine alternative Wertordnung mit neuen Ansprüchen an ein soziales Miteinander: Authentizität heißt die neue Währung; echte Gefühle sind angesagt; Rückmeldungen dürfen auch konfrontativ sein – wenn sie nur ehrlich sind. Gemeinschaft und Körperkontakt sind hohe Güter, aber hinter dem zelebrierten Anspruch blitzen die allzu bekannten menschlichen Schwächen aus Neid, Konkurrenz und Egoismus auf. Und dann die Frage: Ist kirchliche Sozialarbeit in der schwarzen Schwester-Gemeinden nicht letztlich auch ein Ausdruck von Rassismus, weil sie „von oben herab“ geleistet wird? Und Vietnam: Wenn man schon den Krieg nicht stoppen kann, wird er dann gerechter, wenn man ihn nicht durch die Unterpriviligierten austragen lässt? Unübersehbar das Meta-Thema „Religion“: Kann die starke Gläubigkeit der Amerikaner die verschiedenen Genrationen und Milieus verbinden bzw. zusammenhalten? Ohne Zweifel gehört es zu den großen Fähigkeiten von FRANZEN, sich für die Darstellung von Situationen und Personen viel Zeit zu nehmen; er lässt sich als Erzähler nicht hetzen. Anders ausgedrückt heißt das: Er geht sehr in die Tiefe und sehr ins Detail – Redundanz inklusive. Selbst wenn man das als Stärke interpretiert, weist dieser Roman bei der Ausarbeitung der Hauptfiguren eine Besonderheit auf, die sich im Laufe der Erzählung erst zu einer Irritation und dann (fast?) zu einem Ärgernis entwickelt: Durchweg alle beschriebenen Personen weisen eine solch übertriebene Häufung von Ambivalenzsprüngen auf, dass man sich immer wieder wie in einer Achterbahn fühlt. Diese oft im Minuten- oder Seitentakt vollzogenen Brüche und Wechsel von Bewertungen und Entscheidungen sind weder psychologisch nachvollziehbar, noch tragen sie zum Handlungsverlauf erkennbar bei (außer ihn zu verlängern). So sind Menschen einfach nicht (wenn man mal von drogensüchtigen Jugendlichen absieht)! Als Leser/in verliert man den inneren Kontakt zu solchen Figuren, ist erst fassungslos und irgendwann langweilt man sich. Das ist der worst case für einen großen Roman eines großen Erzählers! Wer sich für die zeitgenössische amerikanische Literatur interessiert, wird den neuen FRANZEN sicherlich lesen. Ich rate davon auch keineswegs ab – zumal man viele positive Kritiken findet. Das Buch fordert dazu heraus, sich seine eigene Meinung zu bilden. Andere sind vielleicht besser als ich in der Lage, die zeitgeschichtlich relevanten Botschaften herauszulesen. Aus meiner Sicht hat sich FRANZEN über weite Strecken in den konstruierten emotionalen Widersprüchen seiner Protagonisten regelrecht verloren.