nannisraeuberleben
In unserem diesjährigen Südtirol Urlaub reisen wir zum Reschensee. Schauplatz des Romans "Ich bleibe hier". Während mein Mann und meine Kinder fröhlich am Wasser Steine flitschen lassen, beginne ich die ersten Seiten des Bestsellers. Reise in die Vergangenheit, die ein dunklen Fleck aufweist in der Historie der Länder Italien und Deutschland und der Region Südtirol. Trina möchte Lehrerin werden. Schon während des Studiums weiß sie, dass sie ihre Arbeit lieben wird. Doch dann bekommt sie keine Stelle, weil sie Südtirolerin ist. Weil sie deutsch spricht, statt italienisch. Mussolinis Schergen kommen in ihr kleines Bergdorf, in dem die Bewohner:innen seit Jahrzehnten den gleichen Arbeiten nachgehen, in dem Butter gegen Wolle getauscht wird und Trina ihre erste Liebe findet und Jahre später ihr Kind verlieren wird. Nur unter der Prämisse, dass sie italienisch lernt, spricht und unterrichtet, bekommt sie eine Arbeit als Lehrerin. Trina ist schon immer eine Rebellin. In ihrem Herzen weiß sie, dass sie sich nicht den Machtspielchen eines Diktators beugen möchte. Heimlich unterrichtet sie. Stiftet auch ihre Freundinnen an, weiter auf deutsch zu lehren. Wer erwischt wird, landet zuerst im Gefängnis, dann im Exil. Mussolini versucht die Widerständler:innen zu brechen. Was ihm nicht oder nur bedingt gelingt, versucht Hitler nur wenige Zeit später. Manche spüren die Gefahr, die von ihm ausgeht, andere hoffen auf Befreiung durch seine Soldaten. Balzano schreibt die Zerrissenheit der Identität, der Südtirol ausgesetzt ist, zwischen die Zeilen. Ich kann sie greifen. Trina muss fliehen. Alles zurücklassen. In den Bergen findet sie Unterschlupf, doch dem Grauen kann sie nicht entgehen. Als ob das nicht genug wäre, stehen sie und ihre Nachbar:innen seit Jahren vor der Angst, dass das kleine Bergdorf geflutet wird, um einem Stausee zu weichen. Für Trina ist weder klar, ob sie nach Hause zurückkehren kann, noch ob ihre Heimat in diesem Fall überhaupt noch existiert. Wie dieser Teil der Geschichte ausgeht, weiß ich. Ich stehe auf den Ruinen der Häuser, schieße fröhlich Fotos von der Landschaft, meiner Familie. Als ich "Ich bleibe hier" beende, schäme ich mich dafür. Der Reschensee ist ein Gedenkort, dem wir so begegnen sollten. Balzanos Satz "Als wären unter dem Wasser nicht die Wurzeln der alten Lärchen, die Fundamente unserer Häuser, der Platz, auf dem wir uns versammelten." hallt immer noch in mir nach. "Niemand kann verstehen, was sich unter den Dingen verbirgt." Wenige Tage später besuchen wir einen Bunker, den Mussolini hat bauen lassen, um sich gegen Hitler abzusichern. Ich denke an Trinas Flucht in die Berge. Die Beklemmung, die Balzano mit seiner Sprache, die wunderschön ist, aber auch nicht schöne Emotionen lebendig werden lässt, aufgewirbelt hat, kehrt zurück. Wir haben keine Vorstellung davon wie es sein muss jeden Tag um das eigene Leben, das unserer liebsten zu bangen. Den Bunker, in dem Musik aus den 30er/40er Jahren gespielt wird, werde ich genau so wenig vergessen wie Trinas Geschichte.