gachmuret
Wie und warum werden Menschen in der sogenannten »westlichen Hemisphäre«, die sich doch als Hort von Aufklärung, Freiheit und Gleichberechtigung sieht, marginalisiert, diskriminiert, unterdrückt? Warum gelingt es uns so schlecht, diskursiv Raum zu schaffen für bisher wenig gehörte und gesehene Perspektiven? Davon, für marginalisierte, diskriminierte Menschen real Raum und Platz zu machen, gar nicht erst zu reden... Ich gehöre als weißer Mann definitv zu den mehrfach privilegierten Menschen dieser Gesellschaft und Emilia Roig hat mir eindrücklich aufgezeigt, in wie vielen Phasen meines Lebens ich Hürden nicht überwinden musste, die für andere schwer oder gar nicht überwindbar waren - einfach, weil mich das System bevorzugt. Eine wichtige Erkenntnis bei der Lektüre ist dabei: Es geht in diesem Buch weit weniger um offen und bewusst rassisistisch, sexistisch oder klassistisch denkende und agierende Menschen. Es geht vielmehr um die bittere Erkenntnis, dass wir alle - ob privilegiert oder nicht - tiefgründig und nachhaltig geprägt sind von einem System, dass zutiefst diskriminierend ist, dessen Lebensgrundlage Diskriminierung ist. Wir denken, leben, atmen Diskriminierung. Das tut weh, das ruft Abwehrreaktionen hervor, es zerstört Eigenwahrnehmung. Und je privilegierter, desto mehr. Der Weg daraus kann nur über Bewusstsein führen, über das Bewusst-Werden und sich Bewusst-Machen der vielfältigen Mechanismen, mit denen das kapitalistische System uns von der Richtigkeit und Notwendigkeit von Diskriminierungen überzeugt (seit meiner Daniel Quinn-Lektüre vor Jahrzehnten übernehme ich für dieses vielfältig wirkende System gerne das Bild von »Mutter Kultur« - also, ich übernahm es gerne, bis ich Emilia Roig gelesen habe, jetzt finde ich das Bild auch problematisch). Ein für mich besonders nachhaltiges Leseerlebnis, das mich auf viele der aufgeregt geführten Debatten etwas anders blicken lässt, ist Roigs überzeugende Dekonstruktion des vorherrschenden Universalismus-Begriffs, der eigentlich ausgrenzend ist - besonders fatal, weil er scheinbar universelle Werte propagiert, tatsächlich aber auf sehr begrenzten Grundlagen beruht. Es zählen eben derzeit nicht alle Leben. Oder zumindest nicht gleich stark. Nun gibt es zu den Themen von Emilia Roigs Buch - inzwischen auch auf Deutsch - durchaus einige Literatur. Ob aktivistisch, akademisch oder empirisch motiviert, es melden sich zunehmend Stimmen zu Wort und werden gehört. Warum also gerade dieses Buch lesen? Emilia Roig ist Wissenschaftlerin, Akademikerin, Aktivistin und persönlich Betroffene und lässt diese verschiedenen Perspektiven einfließen. Ihre Verschränkung von Familiengeschichte, persönlichen Erlebnissen und Erfahrungsberichten mit politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Analysen, kombiniert mit einem sehr weiten Blick, der die westlich-europäische Weltsicht nicht ignoriert, sondern vielmehr einordnet in globale Denktraditionen, ist beeindruckend und sehr überzeugend. Ganz besonders eingenommen hat mich dabei ihr Vermögen, durch den nachhaltigen Rückgriff auf die zugrundeliegenden Strukturen den Diskurs von Scham und Schuld wegzuführen hin zur Frage: Wie kommen wir da raus? Was können wir heute, hier und jetzt tun? Ich kann mich an keine Lektüre erinnern, in der derart fundierte Analysen verbunden waren mit so viel Empathie. Darum lohnt es sich, Emilia Roig zu lesen. Ich bin ihr sehr dankbar für diese augenöffenende Lektüre.