Momo
Ein wunderbares, fulminantes Buch, das mich trotz meiner schon vorhandener Kenntnisse zum wieder Nachdenken anregen konnte. Ich habe das Buch schon vor einer Woche ausgelesen und freue mich jetzt auf den schriftlichen Part und hoffe aber, mich an wichtige Details erinnern zu können. Am Ende der Besprechung gebe ich ein paar Fragen aus dem Interview aus der Diogenes Talk - Zoomrunde wieder. Zwischendrin, je nach Thematik, habe ich vereinzelt eigene Beispiele angedockt, weil es aus meiner Sicht so schön gepasst hat. Um was geht es in diesem Buch? Auf jeden Fall geht es nicht nur um den Tod an sich, sondern auch um das Leben. Und die Verarbeitung aus beidem, was bleibt, wenn wir sterben. Die Autorin bringt jede Menge Beispiele aus ihrer Berufspraxis als Trauerrednerin, aber auch Beispiele als Betroffene, als sie ihre eigenen Eltern in kurzen Zeitabständen verabschieden musste. Diesen Mix zwischen Professionalität und persönlicher Erfahrung ist Louise Brown in dieser außergewöhnlichen Thematik wunderbar gelungen, ohne sentimental zu wirken, ohne den roten Faden in einem Dschungel von belastender Traueremotionen verloren zu haben. Und jede Menge symbolträchtige Weisheiten waren zu entlocken: "Freut euch an jedem Tag eures Lebens, die Jahre enteilen wie ein Sturmwind, wie eine aufgeblühte Rose, die morgens noch duftet und am Abend verblüht. Ich habe Brot bekommen, und man hat mir Rosen geschenkt - wie glücklich war ich, beides in meinen Händen zu halten. "(35) Vieles, in dem, was die Autorin geschrieben hat, habe ich mich selbst widerspiegeln können. Mir ist mein Leben in doppelter Weise bewusst, einmal, dass wir leben und einmal, dass es aber eines Tages zu Ende ist. Trotzdem versetzt es einen immer wieder in einen Schockzustand, wenn der Tod einer nahestehenden Mitseele ereilt. Und ich mich immer wieder dabei fragen muss, ob es nicht einen Weg gibt, sich besser darauf vorzubereiten? Wie tief muss es denn erst Menschen treffen, die nicht so bewusst durchs Leben gehen? Ich habe keine bessere Vorbereitung auf diese Thematik finden können, als die Bewusstheit selbst, trotzdem ist es jedes Mal schmerzvoll. "Wie sollte ich mich darauf vorbereiten? Auch das verstand ich in diesem Moment: Selbst wenn in den Ärzteberichten steht, dass ein Mensch bald sterben wird, auch wenn wir es an einem Sterbebett spüren: Wir sind nie wirklich darauf vorbereitet, wenn der Moment dann tatsächlich da ist." (70) "Aber den Tod als einen zum Leben dazugehörigen Prozess zu betrachten, kann dennoch hilfreich sein. Es ist schon paradox, dass wir in den Nachrichten täglich mit Geschichten von Leid und Verlust konfrontiert werden, in unserem Alltag aber nie wirklich dafür gewappnet zu sein scheinen, dass ein geliebter Mensch eines Tages sterben könnte. Es hat bei mir lange gedauert, bis ich das Leid weniger als eine Störung, sondern vielmehr als einen Teil des Lebens akzeptieren konnte (…). Bis ich gelernt habe, Verlust und Schmerz als das zu sehen, was sie sind: Bestandteil des Lebens. Bis ich das Schicksal besser annehmen konnte, anstatt mich dagegen aufzulehnen und im eigenen Leid zu versinken." (38) Damit möchte die Autorin aber keineswegs ausdrücken, dass man das Leid und den Trauerschmerz ignorieren muss, ihn sozusagen verdrängen, was ja die übliche Form bei vielen Menschen der modernen Industrienationen ist. "Ich will das Leiden keinesfalls schönreden. Sprüche wie > Was mich nicht umbringt, macht mich stärker < mochte ich noch nie. Denn was uns nicht umbringt, bringt uns manchmal fast um. Und was uns fast umbringt, kann tiefe Risse und Narben hinterlassen. Narben, die nicht immer gut verheilen und uns für immer prägen." (Ebd) Wie also geht man mit der Trauer angemessen um, damit man für andere nicht als Last empfunden wird? "Denn was ich diesbezüglich als Tabu in unserer Gesellschaft empfinde, ist genau dieser Satz: Natürlich kann ich nachvollziehen, wie anstrengend es für Freunde, Verwandte oder Kolleginnen sein kann, einen emotional instabilen Menschen um sich herum zu haben. Ich selbst war so ein Mensch, der in den Monaten nach dem Tod der Eltern immer wieder die Tränen kamen. Dennoch finde ich Sätze wie: >> Jetzt ist es aber auch gut mit der Heulerei << respektlos: Ein Satz, den mir ein nahestehender Mensch drei Monate nach der Beerdigung meiner Eltern an den Kopf geworfen hat. Niemand sollte das Gefühl haben, versagt zu haben, weil er nicht so souverän sein kann, wie die Gesellschaft es erwartet. Niemand sollte sich dafür schämen, nicht mehr so sein zu können, wie er vor dem Verlust war. Oder weil sich das Zusammensein mit anderen in einem Raum so anfühlt, als stünde man auf einer Bühne vor Publikum und hätte den Text vergessen. "(108) Dies waren auch meine Erfahrungen mit dem Tod meines eigenen Vaters. Ich hätte Lust, am Ende dieser Besprechung über ein kurzes Beispiel zu schreiben, damit wir alle voneinander lernen können, achtsamer mit uns selbst und den anderen umzugehen. Menschen, die leichter verdrängen können als andere, gehen allerdings in erster Linie mit sich selbst nicht achtsam um, was sich sehr wahrscheinlich irgendwann mit negativen Auswirkungen zeigen wird. Und wer mit sich gut umgeht, kann auch gut mit anderen umgehen. Wer anderen eine wertfreie, hohe Toleranzgrenze entgegenzubringen weiß, der kann es auch sich selbst gegenüber. "Tatsächlich scheint heute die Frage, wie man mit seinem Verlust klarkommt, daran gemessen zu werden, wie wenige Emotionen man als Trauernder offenbart. Auch habe ich beobachtet, dass es eine Art unsichtbare Zeitmarke zu gehen scheint - ungefähr nach sechs Monaten -, nach der man von Kollegen und Nachbarn so behandelt wird, als wäre man die Gleiche, die man vor dem Verlust war. Tatsache ist aber, dass man nie mehr der Mensch sein wird, der man einmal war. Die Einsamkeit in einem bleibt und das weit über die ersten Monate hinaus. Und wer trauert, ist oft doppelt einsam, denn man verliert häufig nicht nur eine geliebte Person, sondern muss auch damit rechnen, dass Bekannte sich von einem abwenden, aus Furcht, einen mit falschen Kommentaren zu belasten. "(109) Manche wissen tatsächlich nicht, wie sie sich aufgrund ihrer Befangenheit in so einem Fall dem Trauernden gegenüber verhalten sollen. Die Autorin geht auch darauf ein, dass es nicht darum geht, jemanden mit großen Worten zu betüdeln. Nein, kleine und aufrichtige Worte tun es auch. Die eigene Befangenheit ruhig zeigen, dass man z. B. unsicher ist … Es gibt eine Textstelle, die hat mir ganz besonders gefallen. Gedanken, die ich mir als Jugendliche häufig gemacht habe, viele (philosophische) Gedanken über den Tod: "Poesie der Geschichte, die in der wundersamen Tatsache liegt, dass einst, auf diesem bekannten Flecken Erde, andere Männer und Frauen gingen, genauso wie wir heute, in ihren Gedanken vertieft und von ihren Leidenschaften beeinflusst, aber jetzt sind sie alle fort, eine Generation entschwindet nach der anderen - sowie auch wir bald entschwinden werden, wie Geister im Morgengrauen. " (115) Der Umgang mit der Vergänglichkeit? Viele Menschen verbringen sehr viel Zeit damit, sich mit Anti - Aging Produkten zu verjüngen, und verlieren dadurch ihre Endlichkeit aus dem Bewusstsein. Aber geht das? Kann man dem wirklich entfliehen, selbst wenn man es geschafft hat, sich mit chirurgischer oder konventioneller Kosmetik jünger zu machen? Mir persönlich würde etwas fehlen. Die Erfahrung, die Gedanken und die Gefühle, was das Älterwerden ausmachen und zwar eines Tages bestmöglich wissend gehen zu können. Ich bin sicher, dass wir alle lernen könnten, philosophisch mit unserer Endlichkeit umzugehen, würden wir uns nicht von den Werbespots, die uns ewige Jugendlichkeit (Jugendwahn) suggerieren, in dem kein Älterwerden erlaubt ist, beeinflussen ließen. Die Autorin bietet hierbei schöne und sinnfindende Impulse, die Mut machen können, … "...mit der Einsicht, dass das Älterwerden eine Chance sein kann: dass ich auch ohne die Rüstung meiner Jugendlichkeit liebenswert bin. Dass ich ohne meinen Schutzschild aus Disziplin einzigartig bin. Diese Erkenntnis war für mich einschneidend und tröstlich: dass mein Wert nicht von meinem Aussehen oder meiner Leistung abhängt, sondern etwas ist, das tief in mir steckt; etwas Eigenes, das ich nicht ständig optimieren muss. Ich bin ein Mensch mit Hoffnungen und Träumen und, wie alle anderen auch, mit Fehlern. Vielleicht kann ich lernen, großzügiger und mitfühlender mit mir selbst zu sein und damit auch mit meinen Mitmenschen. Denn wir alle kennen die Einsamkeit, die Verlust und Vergänglichkeit mit sich bringen. Die Geschichte, die von mir bleibt, ist noch nicht zu Ende geschrieben." (166) Das fand ich eine so schöne Textstelle. Die Geschichte, die am Ende bleibt ... wird von einem anderen weitergeschrieben. Das drückt so viel Hoffnung und Weiterleben aus. "Auch im Radio, Fernsehen und in der Zeitung wende ich mich dem Tod zu. Eines Morgens hörte ich mir ein Interview mit einer britischen Paralympics - Sängerin im Radsport an, die mit einer seltenen und unheilbaren Krebsart lebt. Mit ihrer bescheidenen und fröhlichen Art erzählt sie, wie schön sie es finden würde, wenn man sich als gesunder Mensch nicht über ein einzelnes graues Haar aufregen würde, da man froh sein könne, überhaupt grau werden zu dürfen." (137) Meine eigenen prägnanten Erfahrungen mit dem Tod In meinem Leben gab es drei sehr einschneiende Ereignisse, von denen mich zwei davon ziemlich viel Zeit gekostet haben, diese zu überwinden. Das letzte begann vor vier Jahren, während ich eine andere, mein erstes Ereignis, zu überspielen versucht hatte und es zügig aus meinem Bewusstsein geworfen habe .... Und als Jugendliche verhielt ich mich einmal recht großkotzig einem Schulkameraden gegenüber, als dieser seine Großmutter verloren hatte und er mir seine Trauer bekunden wollte. Und so tröstete ich ihn mit philosophischen Floskeln, dass die Oma doch nun ein langes Leben gehabt habe ... Dass man eine Mitseele aber trotzdem vermisst, unabhängig vom Alter, das weiß ich mittlerweile und bedauere meine juvenile kaltschnäuzige Bemerkung immens, trotz der Jahre, die seit dem vergangen sind. Diskrepanzen von außen Ich selbst habe eine Form gefunden, mit der Trauer umzugehen, denn ich wollte mich niemals trauernd der Gesellschaft aufdrängen, die nichts davon wissen wollte, und machte viel mit mir alleine aus. Tränen liefen mir nur im stillen Kämmerlein. Einige Erfahrungen allerdings habe ich bei der Autorin im Buch wiederfinden können. Als mein eigener Vater gestorben ist, und ich mich auf der Arbeit nach zwei Monaten seines Todes krankmelden musste, meinte eine Kollegin, wieso mir denn der Tod noch so viel ausmachen würde? Es sei doch nun reichlich Zeit vergangen ... Ich weiß mich nicht mehr zu entsinnen, was ich darauf erwidert hatte. Das war ihre Interpretation, da ich den Grund meiner Erkrankung noch nicht einmal erwähnt hatte. Zur selben Zeit fragte mich eine andere Bekannte nach dem Befinden meines Vaters, und ich antwortete, dass er nicht mehr leben würde. Sie war ganz erstaunt und inspizierte mich von oben bis unten und meinte, dass man mir die Trauer nicht ansehen würde. Was sollte ich nun darauf erwidern? Das war das andere Extrem. Die Details sind wichtig und nicht nur nebensächlich Was mir persönlich ganz wichtig ist, sind die Details bei Mensch und Tier, weil diese es sind, die uns an sie erinnern lassen, wenn sie den Planeten vor uns verlassen. "Manchmal ist das, was in einem Gespräch über einen Verstorbenen erzählt wird, wie aus einem Roman: Eine Figur oder Situation wird Umrissen, und den Rest darf man sich ausmalen. Oft fehlten die Details, weil sie von den Verstorbenen zu Lebzeiten nicht preisgegeben wurden. Weil man als Angehöriger nicht danach gefragt hat. Weil wir zu selten unseren Eltern, Großeltern oder Geschwistern die Frage stellen, die nach deren Tod in uns brennen. Warum hast du das getan? Was macht dich glücklich? Wie waren deine Lebensträume? Wovor hattest du Angst?" (77) Ich selbst beschränke das nicht nur auf Angehörige. Es ist bei jeder Mitseele schön, sich an Details zu erinnern. Was hat mir besonders gefallen? Ich finde leider die Textstelle nicht mehr. Dass es Bestattungen gibt, in denen zur Lärmdämpfung Stroh auf den Sarg geworfen wird, statt schwere Erdklumpen. Was hat mir nicht gefallen? "In Corona - Zeiten Abschied zu nehmen ist für die Familie noch schwerer, als es das ohnehin ist. Wenn ich sehe, wie die Familienmitglieder bei den Trauerfeiern mit dem vorgeschriebenen Abstand voneinander entfernt sitzen, erscheinen mir diese Meter wie Gräben. Und es bricht mir das Herz, wenn ich in einem Trauergespräch dem lieben Witwer gegenübersitze, der seine krebskranke Frau, die drei Wochen im Krankenhaus lag, aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht mehr besuchen durfte. Kurz nachdem ihm dann doch noch ein Besuch ermöglicht wurde, starb sie. "(249) Hat mich sehr traurig und betroffen gestimmt, wie unmenschlich, empathielos und undifferenziert Gesetze verabschiedet werden. Cover und Buchtitel Hat mir beides sehr gut gefallen. Das Diogenesbuch hat hierbei die Farbe von weiß zu grün gewechselt. Steht das Grün für die Hoffnung und für das Leben über die Natur und der Photosynthese? Und die Vögel, Tauben?, für Frieden und Freiheit? Zum Schreibkonzept Der Schreibstil ist prosaisch und sachlich zugleich, und gleichzeitig empathisch, menschlich und verständnisvoll. Auf den 251 Seiten ist das Buch in drei Teilen gegliedert. Es beginnt mit einer Einleitung und endet mit einem Interview zwischen der Autorin Louise Brown und der Verlagsmitarbeiterin Kerstin Beaujean. Meine Meinung Das ganze Buch trägt meine Meinung in sich. Sowohl von den Kenntnissen als auch in persönlicher Hinsicht. Mein Fazit Ein sehr lesenswertes Lebe- und Trauerbuch, das ich jedem ans Herz legen möchte. Nicht nur Betroffenen. Wie ist das Buch zu mir gekommen? Durch die Anfrage vom Diogenes – Verlag. Zu der Zoomrunde vom 5.10.21 Es war sehr eindrucksvoll, die Autorin persönlich kennenzulernen, nach dem man ihr kürzlich erschienenes Buch gelesen hat. Ich habe mir jede Menge Notizen gemacht, aber ich werde nicht alles hier reinsetzen. Louise Brown von Haus aus Journalistin Die Autorin ist studierte Journalistin, wobei ihr Jugendtraum Kinderärztin gewesen sei. Da sie aber kein Blut sehen könne, musste sie von diesem Berufswunsch absehen. Den Journalistenberuf ergriff sie, weil sie es liebte, gesellschaftliche und politische Dinge zu erfragen und zu erforschen. Wie kam die Autorin zu dem Berufswechsel von einer Journalistin zu einer Trauerrednerin? Den Einstieg fand sie als Quereinsteigerin. Sie reichte ihre Bewerbung bei einem Bestattungsunternehmen ein. In diesem Beruf sei es ihr möglich, das Handwerk einer Journalistin – den Menschen etwas zurückgeben zu wollen – anwenden zu können. Der Berufsalltag einer Trauerredner*in: Der Gesprächsinhalt würde meistens 30 Minuten über den Tod und zwei bis drei Stunden über das Leben umfassen . Wie entstand dieses Buch? Den Anstoß zu diesem bekam sie von ihren Eltern. Der Vorgang einer Trauer habe denselben Platz wie die Liebe im Herzen. Sie wünscht sich, dass das Buch den Menschen Kraft und Mut macht, sich mit der Trauer zu befassen. Ziel Offen über dieses Thema sprechen, damit würde man auch anderen helfen, sich dafür zu öffnen. Über den Tod und die Trauer zu sprechen betrachtet die Autorin nicht als ein Tabu, es würden lediglich Räume fehlen, sich darüber auszutauschen. Wer eigene Trauergeschichten erzählt, würde andere ermutigen, selbst über ihre Trauer zu erzählen. Der Wunsch, natürlich sein zu dürfen, so wie man ist. Fazit / Der Wunsch der Autorin Ein Lebensbuch – Wenn meine Kinder meine Umarmungen dann noch spüren können, wenn ich nicht mehr da bin.