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wandanoir

Posted on 21.10.2021

Erst fährst du Zug, dann bist du tot. Das Unglück ereignet sich in Genthin 1939, der Schnellzug D180 fährt auf den Schnellzug D10 auf, der wahrscheinlich aufgrund einer Verwechslung statt des D180 gestoppt worden ist. Es geht alles blitzschnell. Die Züge fahren auf derselben Strecke. Als den Zuständigen klar wird, dass mehrere Haltesignale überfahren wurden, muss man sekundenschnell reagieren. Eine kreisende rote Laterne wird vom zuständigen Streckenwart aus einem Fenster gehalten. Vier Sekunden zu früh. Der D10 bezieht das Signal auf sich und stoppt!!!! Solange der Autor sich mit dem Unglück selber beschäftigt, folge ich ihm sehr gerne, da mir „das Unglück“ nicht einmal vom Hörensagen bekannt ist. Erstaunlicherweise haben Lokführer und Heizer des auffahrenden Zuges überlebt. Sie müssen die Haltesignal übersehen haben. Warum? Es ist Winter. Es gibt Tote und Verletzte. Auch der Kälte geschuldet. Wer überlebt hat, aber nicht rechtzeitig geborgen werden kann, erfriert! Als der Journalist Thomas Vandersee seine Recherche aufnimmt, sind Lokführer und Heizer verstorben, auch die meisten anderen Zeitzeugen sind uralt oder leben nicht mehr. Man könnte jedoch mit Hinterbliebenen sprechen, denen sicherlich von dem Geschehen erzählt worden ist. Diesen Weg läßt Loschütz seinen Protagonisten nicht gehen. Und so rückt das Unglück leider rasch in den Hintergrund, nur um eine damit locker in Verbindung stehende Handlung einzuleiten. So bleibt das Entsetzen lose im Raum stehen, das Romangeschehen stecken. Statt dessen fragt sich Vandersee, wie ist eine gewisse Carla in den Zug gekommen? Sie war eine Ansässige, die mit der Mutter von Thomas Vandersee in Kontakt kam. Die Mutter kann man jedoch auch nicht mehr befragen. Auch sie hat das Zeitliche gesegnet. Hatte Carla Kinder? Hätte man diese ausfragen können? Nicht einmal das ist gewiss. Das Trauma des Unglücks hätte interessiert. Davon erfährt man nur andeutungsweise. Der Kommentar: Geschichte vermittelt zu bekommen ist immer gut. Doch viel mehr als ein paar Unterlagen und Fakten bekommt der Leser nicht. Einen Haufen unbeantworteter Fragen. Vermutungen. Irgendwie spielte auch die NS-Zeit in das Geschehen und verhinderte eine exakte Aufklärung. Man durfte nicht alles sagen, was man argwöhnte. Man konnte nicht sagen, dass auch ein Militärzug in der Strecke hing und wahrscheinlich eine gefährliche Verlangsamung des vorausfahrenden Zugs verursachte oder dass wegen des Einzugs von Lokomotiven zu Kriegszwecken im Weihnachtsverkehr zu wenige Personenzüge zur Verfügung standen und zu viele Passagiere eine Verspätung erzwangen, weil sie länger als sonst zum Ein- und Aussteigen brauchten. Menschliches Versagen ist das eine. Umstände, die man nicht anprangern darf, das andere. Bis zu diesem Lesezeitpunkt läuft es einem kalt den Rücken herunter. Wie hätte dieser Roman jetzt weitergehen können? Vielleicht hätte er sich weiter mit dem Thema Zufall und anderen Zugunglücken in der Gegenwart beschäftigen müssen. Oder wie Informationen in der NS-Zeit generell verfälscht wurden. Wie viele Kriminalfälle genau deshalb nicht aufgeklärt werden konnten. Diesen Weg wählt Gert Loschütz jedoch nicht. Und auch über andere Verkehrsunfälle lässt er sich nicht aus. Das wäre aber interessant gewesen. Sind die heutigen Vorsichtsmaßen besser? Über eine sich damals im Zug befindliche, in Genthin ansässige weibliche Person, leitet Loschütz zur (Biografie der) Mutter des Protagonisten über. Auch sie war eine Genthinerin. Eine halbgare Vatersuche beginnt. Die Verbindungen zum 1939er Zugunglück sind peripher. Das Lokalkolorit, fortgesetzte ausufernde Beschreibungen von Straßenzügen und einzelnen Häusern des Ostens mutet nostalgisch an. Jugenderinnerungen des Autoren vermutlich. Einem anrührenden und mitnehmenden Einstieg in das Buch folgt leider gähnende Leere. Schnell verfliegt die Atmosphäre von Kälte und Entsetzen, mit der das Unglück geschieht. Eine Überleitung zu Lokalgeschehnissen, die im Vergleich dazu unwichtig scheinen, können mit dem fesselnden Anfang in keinster Weise mithalten. Warum? Warum nur verschenkt der Autor seinen genialen Auftakt so leichtfertig? Um mir was zu erzählen? Weitere halbgare Geschichten? Fazit: Ein Auftakt mit Pauken und Trompten – und dann nichts mehr. Traurig. Was hätte man aus diesem Beginn nicht alles machen können. Kategorie: Belletristik Schöffling, 2021 Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021

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