Babscha
Vorab: Selten hat mich ein Buch so schnell gefesselt und bis zum Schluss vereinnahmt. Ganz großes (aber überwiegend trauriges) Kino, das die Autorin mit dem Bericht über die ersten drei Jahrzehnte ihres so ungewöhnlichen wie beeindruckenden Lebens hier abliefert. Ihr Bericht ist durchsetzt von einer solchen Fülle an Emotionen, unglaublichen Begebenheiten, Schrecken und menschlichen Abgründen, dass dies jeden Rahmen sprengt und man es kaum in einer normalen Rezension verdichten kann. Von daher die ultimative Empfehlung: selber lesen, es lohnt! Alles beginnt mit den ersten Erinnerungen Cheryls an die Zeit, als sie vier war und mit ihren Eltern und den beiden deutlich älteren Geschwistern mit dem Auto durch Indien cruist. Aber nicht für lange, denn aus zunächst noch unerfindlichen Gründen verlässt die Familie ein Land immer wieder sehr schnell und überstürzt. Geld ist eigenartigerweise gar nicht das Problem dabei, im Gegenteil, es ist immer reichlich davon da. Wir erfahren, dass die Familie mit immer wieder neuen Identitäten auf der Flucht ist vor Interpol und dem Vater der Ehefrau, einem Geheimdienstmann, der sie rund um den Globus verfolgt und alle Hebel in Bewegung setzt, ihrer irgendwie habhaft zu werden. Während wir die Familie auf den Stationen ihrer Odyssee über die Kontinente begleiten, lernen wir die einzelnen Personen und ihre jeweilige Vergangenheit immer besser kennen. Der Vater, ein durchtriebener, eiskalter und psychotischer Egozentriker, der durch die Veruntreuung riesiger Geldsummen den ganzen Schlamassel, in dem die Familie steckt, ausgelöst hat, drangsaliert seine Familie, postuliert hohe Werte und fordert Höchstleistungen von seinen Kindern, entpuppt sich aber immer mehr als mieser, realitätsferner und gewalttätiger Phantast ohne jede innere Bindung an irgendwen. Seine Frau hat dem nichts entgegen zu setzen und ist nicht in der Lage, sich und ihre Kinder irgendwie zu schützen. Schwester und Bruder sind durch die unsäglichen unsteten Lebensumstände, die keine Bindungen, Freundschaften bzw. emotionale Entwicklung zulassen, genauso traumatisiert wie ihre kleine Schwester und völlig instabil. Cheryl, die Erzählerin, die von klein auf über die ganzen Jahre hinweg alles versucht, eine „normale“ Familie zu haben, ist noch die Stärkste der ganzen Gang, aber bis zuletzt auch nur Mittel zum Zweck ihrer unfähigen Eltern und wird ohne jede emotionale Zuwendung auch nur ausgenutzt. Bis dann eines Tages alles aus dem Ruder läuft und die Familie unter dramatischen Umständen nach und nach auseinanderbricht. Aber damit ist für die inzwischen erwachsene Autorin noch lange nicht alles gut, sondern das Elend geht für sie nahtlos weiter. Die Sprache des Buches, die dem Leser/der Leserin offenbarten innersten Gedanken und Gefühle und die kaum glaubhaften Schilderungen einer komplett verpfuschten Kindheit und Jugend sind so eindringlich und intensiv, dass man sich der Lektüre kaum entziehen kann, geschweige denn will. Die Leidensfähigkeit und trotz aller widrigen Umstände immer vorhandene innere Stärke und positive Lebenseinstellung der Autorin sind dabei phänomenal und bewundernswert. Wieder ein zwar extremes, aber gelungenes Beispiel dafür, wozu Menschen im Guten wie im Schlechten fähig sind und vor allem, wie sich Dinge letztlich doch noch irgendwie zum Guten wenden können, auch wenn das Leben als solches sehr sehr ungerecht sein kann. Ein absolutes Lesehighlight dieses Jahres und unbedingte Empfehlung.