Wedma
Ein sehr lesenswertes Werk, eindeutig literarisches Lesehighlight in diesem Herbst, das mich bestens unterhalten hat. Eine klare Leseempfehlung. Auch wenn es einem erst etwas seltsam, kompliziert, unnahbar, wie auch immer, erscheinen mag, die Bedenken beiseiteschieben und lesen! Lesen und Nachdenken. Nachdenken und mit Freunden/Familie darüber reden. Es ist in großartiges Werk, das sich sehr angenehm lesen lässt, uns den Spiegel vors Gesicht hält, so manches aus der Vergangenheit holt und für die Zukunft voraussagt und noch vieles mehr. Der Autor ist ein talentierter Erzähler. Mit nur wenigen Worten vermag er so viel zu erreichen! Schon auf den ersten Seiten fühlte ich mich abgeholt, das Kopfkino startete sofort und endete noch gar nicht, auch nachdem die letzten Seiten seit paar Tagen ausgelesen sind. Gedanklich kehre ich immer wieder zu diesem Werk zurück. Besonders oft ertappte ich mich bei der Botschaft aus dem Buch: Gegenüber den Sprachassistenten wie Sybil, man kennt entsprechende Äquivalente in der heutigen Welt, die gesunde Skepsis bewahren. Das damit einhergehende Hinterfragen der Richtigkeit ihrer Aussagen sollte an der Tagesordnung stehen. Das kann Leben retten. Auch, dass das Glück evtl. nicht in der Ferne liegt, uvm. Es gibt mehrere Erzählstränge: zwei spielen in der Vergangenheit, wenn man die Geschichte um den Hirten von Diogenes als solche nimmt, einer in der Gegenwart und einer in der Zukunft. Alle sind auf eine bestimmte, feine Art miteinander verwoben, sodass das Geschehen in allen Strängen als Puzzleteilchen eines größeren Bildes erscheinen lässt. Mit nur wenigen Griffen schaffte Anthony Doerr, mich für seine Hauptfiguren zu begeistern. Viele lebten in fernen Zeiten, sie waren mir aber vom Anfang sympathisch, ich musste wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Dabei fielen sie weder besonders hübsch noch außerordentlich klug aus. Sie hatten aber die Eigenschaften, die ihnen und ihren Lieben weiterhelfen konnten. Es war spannend zu schauen, wie geschickt der Autor mit Parallelen und Kontrasten gearbeitet hatte. Mehrere Themen sind in den Erzählteppich hineingewoben worden, darunter: Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen; Gesellschaftskritik bezüglich des Umgangs mit weniger gut betuchten Menschen, auch mit Menschen, die anders sind als die Norm, wer auch immer diese festgelegt hat. Die Umweltzerstörung und ihre Folgen sind sehr beeindruckend dargestellt worden. Die Zukunft schaut schon schaurig aus. Ebenso beeindruckend ist das Bild der zerstörerischen Wirkung der Kriege. Es ist ein flammendes Plädoyer gegen die Kriege aller Art, stark in Szene gesetzt. Das Werk zeigt auch sehr deutlich, wie Propaganda und Hirnwäsche wirken und was sie bewirken. Das Wie des Erzählten ist geradezu genial: Schlicht und ergreifend, bildhaft, plastisch, alles erscheint zum Greifen nah. Man ist stets mitten im Geschehen. Und doch wird man durch regelmäßig auftauchende Wendungen gründlich überrascht. Diese überraschenden Wendungen sind wortwörtlich zu nehmen: Wie es weitergeht, kann man (meist) nicht voraussehen. Es wird also nicht langweilig. Und das Märchen im Märchen Element, das immer wieder auftaucht, ist wie ein Tüpfelchen auf dem i. Hinzukommt noch eine Menge an guten Fragen, Sprüchen, Sätzen, gleichmäßig im Text verteilt, die uns auf bestimmte (gefährliche) Entwicklungen aufmerksam machen, viel Stoff zum Nachdenken liefern uvm. Fazit: Sehr, sehr lesenswert. Eindeutig ein literarisches Lesehighlight in diesem Herbst. Zum Vorlesen eignet sich der Roman auch sehr gut. Eine Fülle an Geschichten um die einfachen Menschen, ob kurz oder lang, komplex oder simpel, alle zusammen liefern sie viel Stoff zum Nachdenken und regen Meinungsaustausch. Ich habe schöne, erfüllte Lesestunden damit verbracht, was ich Euch auch wünsche.