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Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald WELZER hat den gesellschaftlichen Diskurs rund um Zukunftsfragen und Nachhaltigkeit in den letzten Jahren an prominenter Stelle mit geprägt. Er ist auf Kongressen und in den Medien fast permanent präsent und spielt die ihm oft zugewiesene Rolle als Provokateur sicher ganz gerne. WELZER liebt es ganz offensichtlich, cool und provokativ zu sein. Mit seinem neuen Buch legt der Autor diese Seite zwar nicht völlig ab: Auch in diesem Text gibt es sehr zugespitzte Formulierungen und gewohnt pointierte Sichtweisen. Aber in den Vordergrund tritt diesmal ein anderer WELZER. Er hat ein überraschend nachdenkliches, manchmal sogar leises, philosophisches und extrem persönliches Buch geschrieben. In dem Buch findet sich nicht nur eine – ziemlich einzigartige – Mischung von Themen, sondern auch von Stil- und Darstellungselementen. Damit entzieht sich der Text auch einer eindeutigen Zuordnung: kein eindeutiges Sachbuch, keine reine Autobiografie, keine Sammlung von Kurzgeschichten, Lebensweisheiten oder Essays, kein politisches Manifest – aber von jedem etwas. Was sich durchzieht: Es sind existentielle Fragen, auf die WELZER eine Antwort sucht – persönlich und gesellschaftlich. Wie WELZER es selbst formuliert: Es geht ihm um die „Kunst des Aufhörens“. Damit sind ganz verschiedene Aspekte gemeint, die sich rund um das Thema „Endlichkeit“, „Begrenzung“, „Tod“ und „Neuanfang“ gruppieren. Alle berühren die Frage nach den wirklichen Prioritäten und nach bewussten Entscheidungen für ein erfülltes und verantwortungsbewusstes Leben angesichts der unvermeidlichen Beschränkungen, die wir als biologische Wesen in einer Welt mit begrenzten Ressourcen haben. In einer offeneren und im Alltag präsenteren Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit sieht der Autor einen wichtigen Beitrag zu einem sinnhafteren Leben. Dem Thema „Tod“ wird daher viel Raum gegeben. WELZER ist zutiefst davon überzeugt, dass die Lösung der großen Menschheitsprobleme nicht durch Optimierung und Innovationen zu erreichen sind. Der Endlichkeit von Ressourcen und der Verletzbarkeit von Ökosystemen könne man nicht allein durch eine weitgehend CO2-freie Wirtschaft begegnen. Die Antwort liegt für WELZER ganz oft im Aufhören – und nicht im Bessermachen. Für ihn ist z.B. die Tesla-Autofabrik in Brandenburg ein Symbol für falsch verstandene, viel zu kurz gegriffene Nachhaltigkeit. Die Zugänge zu den Reflexionen sind vielfältig: Da gibt es persönliche Erfahrungen (ein überlebter Herzinfarkt), die eigene Arbeit mit Zukunftsprojekten, Gespräche mit Bekannten oder Prominenten, Auseinandersetzung mit Texten anderer Autoren oder mit gesellschaftlichen Bewegungen. Aber es wird auch viel „laut gedacht“: Wir erfahren jede Menge von WELZERs privaten Meinungen und Werthaltungen; er ist es ja schon länger gewohnt, sich dabei nicht zurückzuhalten. Natürlich muss man dabei nicht jedem Argumentationsstrang folgen (z.B. im Bereich Aufklärung und Wissenschaft); das ist bei einem so subjektiven Text auch gar nicht denkbar. Aber auch das innere Zögern und Zweifeln, das wohl jede/r bei einigen Thesen spürt, ist letztlich bereichernd. Es gibt sicher auch in diesem Buch innere Widersprüche; das bleibt nicht aus, wenn so viele Facetten zusammengetragen werden. So hebt WELZER es z.B. als Modell für das „Aufhören“ hervor, wenn man sich nach dem Erreichen eines persönlichen Kompetenzplateaus anderen Herausforderungen zuwendet (um Erfahrungen von „Banalität“ zu vermeiden). Als kreativer und multibegabter Macher merkt der Autor gar nicht, dass es für weniger dynamische und selbstüberzeugte Menschen eben auch eine gute Form von „Aufhören“ sein könnte, in der Situation zu verharren und eben nicht das nächste und übernächste Selbstverwirklichungsziel anzusteuern. Auch ein WELZER sieht eben die Welt vorrangig durch die eigenen Augen… Der Schlusspunkt wird dann mit seinem selbstformulierten Nachruf gesetzt: WELZER führt diesen in 15 Punkten aus und empfiehlt allen Leser/innen, sich ebenfalls bewusst zu machen, wie man gerne gewesen und gelebt hätte, wenn man am Lebensende zurückblicken würde. So kann die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit zum Einstieg in ein bewussteres und erfüllteres Leben werden. Insgesamt haben wir es mit einem wahrhaft „besonderen“ Buch zu tun, das mit Sicherheit nicht im allgemeinen Medienrummel untergehen wird. Hier hat einer die Grenzen der populärwissenschaftlichen Publikationsform deutlich ausgeweitet und sich als Person im Umgang mit existentiellen Grundfragen eingebracht. Ein mutiger, ein gelungener Versuch.